Väterchen Frost bringt in Russland heuer – auch – eine Covid-Impfung.

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"Nein", sagt die Schwester freundlich, aber bestimmt. "Einfach so können Sie sich natürlich nicht impfen lassen, dazu müssen Sie sich vorher anmelden." Dabei ist der Andrang offenbar nicht besonders hoch. Hinter den zwei maskierten Schwestern, die mit einem quergestellten Tisch den Eingang zur eilig aufgebauten Impfstation in der Poliklinik versperren, sind gerade einmal die Beine eines Patienten sichtbar. Ansonsten herrscht Leere auf dem Flur.

Moskau ist Pilotregion beim Impfen. Seit dem 5. Dezember können sich hier Menschen in ausgewählten Krankenhäusern mit dem Stoff Sputnik V impfen lassen. Zunächst sollten nur Ärzte und Lehrer geimpft werden, seit Anfang der Woche sind auch Mitarbeiter anderer sozialer und kultureller Einrichtungen zugelassen.

Kaum Kontrollen

Besonders scharf sind die Kontrolleure dabei nicht: Wjatscheslaw hat sich bereits vor einer Woche impfen lassen, dabei ist er weder Arzt noch Lehrer. Der Chef einer kleinen Moskauer IT-Firma hat sich über das Onlineportal der Stadtregierung eingetragen. "Da konnte ich mir den Termin praktisch aussuchen, nach meinem Beruf hat mich auch niemand gefragt", erzählt der 34-Jährige dem STANDARD.

Auch er berichtet von einer leeren Impfstation. Innerhalb einer Stunde, die die Prozedur mit Puls- und Fiebermessen sowie dem Ausfüllen eines Fragebogens zu Allergien und Vorerkrankungen in Anspruch genommen habe, sei er allein gewesen.

Neben der offiziellen Beschränkung auf bestimmte Berufsgruppen, die potenzielle Interessenten abgeschreckt haben dürfte, gibt es noch einen Grund für die laue Nachfrage: Die Impfskepsis in Russland ist hoch. Im Oktober wollten sich nur 23 Prozent der Russen überhaupt impfen lassen, inzwischen sind es laut einer Umfrage des kremlnahen Fonds für Öffentliche Meinung (Fom) immerhin schon 42 Prozent, aber immer noch weniger als die Hälfte der Bevölkerung.

Nur eine Frage der Zeit

Wjatscheslaw begründet seine Rolle als Impfpionier mit dem Bedürfnis, ältere Verwandte zu schützen. In seinem Umkreis seien schon viele Freunde, Kollegen und Verwandte an Covid-19 erkrankt. "Im letzten Monat gab es mehrfach Momente, wo ich jemanden getroffen habe, der kurz darauf entweder selbst krank geworden ist oder zumindest Kontakt mit Infizierten gehabt hat", sagt er. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann er sich selbst anstecke.

Tatsächlich hat Covid-19 Russland weltweit mit am stärksten getroffen. Obwohl das Land aufgrund seiner im Vergleich zu Westeuropa geringeren Integration in Welthandel und Tourismusströme einige Wochen Vorlauf hatte, ehe die Epidemie ausbrach, sind inzwischen nach Angaben des staatlichen Covid-Operationsstabs 2,7 Millionen Menschen erkrankt und mehr als 47.000 Russen daran gestorben. Die Daten der Statistikbehörde sind noch höher. Demnach lag die Übersterblichkeit gegenüber anderen Jahren bis Ende Oktober bei 164.000 Menschen. Davon seien gut 90 Prozent auf Folgen der Pandemie zurückzuführen, heißt es.

Auch jetzt sind die Ansteckungsraten hoch. Eben darum habe er sich für den russischen Impfstoff entschieden, meint Wjatscheslaw. "Es ist leichter, eineinhalb Monate durchzuhalten, bis ich Antikörper habe, als sechs Monate zu warten, bis ein anderes, ausländisches Vakzin hier verfügbar ist", räsoniert er. Er habe sich eingelesen und sehe keine großen Risiken bei Sputnik V.

Impfstoff statt Sekt

Zumindest hat der Körper des Mittdreißigers auf die Impfung wie gewünscht angeschlagen. Das Immunsystem reagierte schnell und heftig. Schon am Abend schnellte das Fieber auf 39 Grad in die Höhe. "Ich habe mich schwach gefühlt und gefroren", beschreibt er die unmittelbaren Folgen. Doch am nächsten Tag sei die Temperatur bereits auf 37 Grad gesunken, und am dritten Tag habe er sich wieder normal gefühlt. Die zweite Impfung ist nun kurz vor Neujahr. Und auch wenn das bedeutet, dass er zu Silvester nicht mit Sekt anstoßen kann – Russlands oberste Amtsärztin Anna Popowa hat den zu Impfenden zwei Monate Alkoholverbot verordnet –, ist Wjatscheslaw zufrieden: Auf diese Weise werde er psychologisch gestärkt in das Jahr 2021 starten, hofft er. (André Ballin aus Moskau, 14.12.2020)