In seltener Einmütigkeit, fast euphorisch lobten die EU-Spitzenvertreter die Einigung beim letzten Gipfeltreffen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem "Meilenstein für Europa", Ratspräsident Charles Michel von einem "großartigen Resultat für Europa". Sie sei auch ein großer Erfolg für die deutsche Ratspräsidentschaft und besonders für Bundeskanzlerin Angela Merkel, hieß es in manchen Blättern, wobei die Bedeutung des Kompromisses über die Anwendung des von Ungarn und Polen durch ihr Doppelveto blockierten Rechtsschutzmechanismus auch hervorgehoben wurde.

In der Tat war angesichts der von der Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise die Einigung auf den Haushalt und den Corona-Hilfefonds, insgesamt in der Höhe von 1,8 Billionen Euro, ein Erfolg, ebenso wie das schärfere Klimaziel für 2030 und die geschlossene Haltung der 27 Mitgliedsstaaten bei den Verhandlungen über die Bedingungen des britischen Austritts.

Trotzdem ist an der Feststellung von Florian Hassel, dem Warschauer Korrespondenten, in der Süddeutschen Zeitung (12. 12.) nicht zu rütteln. Die Einigung in Brüssel sei ein Desaster für die Polen und Ungarn, die seit Jahren vergeblich hoffen, die EU möge endlich etwas Handfestes unternehmen, um ihren Rechtsstaat wiederherzustellen oder die Reste zu retten. Jegliche Anwendung des verwässerten Rechtsstaatsmechanismus bleibt nämlich Jahre entfernt. Erst nach seiner Bestätigung durch den Europäischen Gerichtshof können nach dem in jedem Einzelfall nachgewiesenen und vom örtlichen Gericht nicht geahndeten Missbrauch von EU-Mitteln die Fördergelder gestrichen werden.

Kompromiss

Die ungarische Kommunikationswissenschafterin Mária Vásárhelyi griff Angela Merkel scharf an: Sie habe einen prinzipienlosen Kompromiss auf dem Rücken der Ungarn mit dem Diktator geschlossen und ihm im Grunde einen Rettungsring hingeworfen. Bis zu den 2022er Parlamentswahlen werde sicherlich kein Verfahren gegen Ungarn eingeleitet. Wenn also die Orbán-Leute in den nächsten Jahren die Gelder weniger auffallend stehlen, dann könnten sie noch hemmungsloser agieren. Solange die EU Orbáns Regime mit Kapital füttere, könne die Opposition nicht einmal überleben, geschweige denn einen erfolgreichen Kampf gegen die Diktatur führen.

Auch der ungarisch-amerikanische Philanthrop George Soros verurteilte den Kompromiss als "den schlimmsten aller möglichen Welten". Statt Orbán zu zwingen, Farbe zu bekennen, habe Merkel der ungarischen und polnischen Erpressung nachgegeben. Ungarn kann aus dem Corona-Fond Mittel und Zuschüsse von insgesamt 19 Milliarden Euro abrufen und aus dem EU-Budget jährlich 2,7 Milliarden erhalten, einen höheren Prozentsatz seines Bruttosozialproduktes als alle anderen Staaten. Der zynische und gerissene Pokerspieler in Budapest und seine gleichgesinnten Partner in Warschau erklärten sich bereits – möglicherweise zu früh – zu Siegern.

Für die Polen und Ungarn und auch für die Bulgaren und Rumänen bedeutet der gefeierte faule Kompromiss jedenfalls das Ende der Illusionen, dass die EU nicht nur als ein Binnenmarkt, sondern auch als eine Wertegemeinschaft erfolgreich funktionieren könnte.(Paul Lendvai, 15.12.2020)