Beim Zivildienstantritt bläuen Unfallsanitäter den Neulingen im Erste-Hilfe-Kurs eine Sache ein: Solange der Kopf noch dran ist, haben Sie den Tod eines Menschen nicht festzustellen! Das dürfen ausschließlich Ärzte. Das ergibt Sinn, weil Totsein gar nicht so leicht zu definieren ist. Der letzte Herzschlag, der Hirntod, das Einsetzen der Leichenstarre? Beim natürlichen Tod ist der Sterbeprozess viel mehr Übergang als umgelegter Schalter. Zudem ist es mehr ein aktiver als ein passiver Prozess, wie der Innsbrucker Neurowissenschafter Wilhelm Eisner erklärt.

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Menschen, die vor einigen Jahrhunderten noch für tot erklärt worden wären, können heutzutage reanimiert werden. Totgeglaubte können durch eine Vielzahl an Behandlungsmethoden, Organe aus dem 3D-Drucker oder Spenderorgane weiterleben. Die Feststellung des Todes verschiebt sich durch den medizinischen Fortschritt – rechtliche Definitionen gibt es aber natürlich.

In mit flüssigem Stickstoff befüllten Tanks lagern die Patienten und warten, so gut ein Toter halt warten kann.
CNET

Doch der Fortschritt der Wissenschaft befeuert den Glauben der sogenannten Kryoniker. Manche von ihnen sind schwerkrank, andere quicklebendig. Manche leiden an einem Gehirntumor, andere haben bloß Lust auf die Zukunft. Sie alle eint der Glaube an eine zweite Chance – ein Weiterleben nach dem ersten Tod. In Zukunft, so meinen sie, könnten Mediziner ihre Körper und Gehirne quasi wiedererwecken. Für diese Hoffnung lassen sie sich nach ihrem Tod "einfrieren".

Chance auf die Zukunft

"Es ist eine Chance ohne wirkliche Nachteile", sagt der 28-jährige US-Amerikaner Joel zum STANDARD. Joel ist Mitglied der größten und ältesten Kryonik-Community Alcor im amerikanischen Arizona. Wenn seine Wiedererweckung nicht klappt, sei er eben weiter einfach nur tot – gelingt es der Wissenschaft aber doch, dann habe er die Chance, seine Zukunftsneugierde zumindest ein Stück weit zu stillen.

Joel mit einem geklonten Hund auf einer Südkorea-Reise.
Foto: Joel B.

Joel ist Tech-affiner Futurist und pumperlgesund. Er würde gerne noch erleben, wie menschliche Gehirne in eine Cloud hochgeladen werden, um sich bionische Körper je nach Anforderung wie bei einer Uber-App auszuleihen. Einmal den Mount Everest besteigen? Vielleicht könne man sein Hirn dann auf einen Bergsteigerkörper setzen und er den Gipfelsturm so erfahren. Die Verwirklichung dieser Vision könne er in dieser Lebenszeit nicht mehr erleben. Die Kryonik, so meint er, gibt ihm die Chance, es in etlichen Jahren vielleicht doch zu tun.

Lottosechser

Die Chancen auf seine Wiedergeburt vergleicht Joel mit der auf einen Lotto-Jackpot. Überzeugt hatte ihn vor einigen Jahren ein Text, der mit einer Parabel begann. In einem abstürzenden Flugzeug meldet der Pilot den sicheren Tod in 15 Minuten. Es werden nicht ausgereifte Fallschirme mit minimaler Überlebenschance angeboten. Joel will sich den Schirm umschnallen.

Seine Familie ist skeptisch, doch sein Vater begleitete den US-Westküstler beim Besuch seiner letzten (oder zwischenzeitlichen?) Ruhestätte. Er unterstützt ihn seither.

Dennis Kowalski, Präsident des Cryonics Institute (CI), will seine engste Familie gleich mit auf die Reise nehmen, wie er zum STANDARD sagt. Er wird eines Tages entschlafen in der Hoffnung, seine Liebsten wiederzusehen. Das Prinzip Hoffnung treibe aber nicht nur Atheisten und Agnostiker, sondern auch religiöse Menschen in die mit flüssigem Stickstoff gefüllten Tanks. Nur der hohe Bildungsgrad sei allen gemein, sagt Kowalski.

Er versteht die Skepsis vieler Menschen. Diese werde mit der Zeit aber immer weniger. Anfangs hielten auch viele Organtransplantationen für "Gott spielen", nun sei es aber fast flächendeckend akzeptiert. Eine ähnliche Entwicklung wünscht er sich für die Kryonik.

Die Lebenden und die Toten

1.317 Mitglieder zählt die Alcor-Community aktuell. 181 von ihnen liegen derzeit seit ihrem klinischen Tod bei minus 196 Grad Celsius in Arizona. Sie sind entschlafen im Vertrauen, dass die Gruppe der 233 Grad wärmeren Mitglieder sie erst dann aufzutauen versucht, wenn dies ohne gravierende Schäden möglich ist. Ob die Medizin jemals dazu in der Lage sein wird, weiß niemand. Manche Kryoniker glauben, dass es in 50 Jahren so weit sein könnte. Die meisten rechnen eher mit Jahrhunderten. Weitaus skeptischer sind jene, die sich tagtäglich damit beschäftigen, Lebendmaterial einzufrieren und wieder aufzutauen – sogenannte Kryobiologen.

Der Prozess, bei dem rechtlich für tot erklärten Menschen alle Körperflüssigkeiten entzogen und durch ein giftiges Frostschutzmittel ersetzt werden, ist dabei noch das kleinere Problem. Viel eher scheitere es am Auftauprozess, da sich hier Gefrierkristalle und Risse bilden, die die Zellstruktur beschädigen. Außerdem drohe laufend die akute Unterversorgung des Organismus mit Sauerstoff, sagen sie.

Ein weiteres Erklärvideo.
Nicholas Van Der Meulen

Auch ob die komplexe Struktur des Gehirns erhalten werden könne, wird mehr als angezweifelt.

Auch Eisner ist skeptisch, was das Einfrieren angeht. Da sei es fast vielversprechender, das Sterben an sich zu verhindern. Etwa wenn man es schaffe, jene Schrittmacherzellen auszuschalten, die im Körper, einfach gesagt, den Tod einleiten.

Was kostet Hoffnung?

Die Kryoniker aber öffnen weiterhin ihre Geldbörsen für die Institute, die wohlgemerkt Non-Profits sind. Die Ruhestätte gibt es beim CI deutlich billiger als bei der Konkurrenz. Alcor verlangt 200.000 Euro für die Aufbewahrung des gesamten Körpers – das Hirn alleine gibt es um die Hälfte. Der Rest lasse sich bis dahin eh nachzüchten oder erneuern, so die These. Manche zahlen bar, doch die meisten setzen auf Lebensversicherungen.

"Ich sehe es als eine Art Wertanlage mit Bonus", sagt Joel. Wenn er es sich anders überlege, könne er sich die Prämie auszahlen lassen und habe "nur" den Mitgliedsbeitrag von rund 500 Euro im Jahr verheizt. Inkludiert darin ist ein Armband, das das Institut sofort über seinen Tod informiert, sofern die Community nicht eh schon am Bettrand auf den letzten Herzschlag wartet.

In solchen Behältern liegen die "Patienten" einer Handvoll kryonischer Institute weltweit bei minus 196 Grad. Alle sind rechtlich tot, alle hoffen auf ihre Wiedergeburt. (Fabian Sommavilla, 19.12.2020)