"Das verratene Meer" kreist um die Liebesgeschichte zwischen Fusako (Vera-Lotte Boecker) und Offizier Ryuji (Bo Skovhus). Geht nicht gut aus, Sohn Noboru will seine Mutter für sich allein.

Pöhn

In eine gnadenlose Clique ist der junge Noboru hineingeraten: Gerade hat ihm der neue Gatte seiner Mutter, Marineoffizier Ryuji, großzügig verziehen, dass Noboru das Paar beim horizontalen Austausch von Körpersäften mehrfach voyeuristisch begutachtet hat.

Doch bei der Gang, der Noboru seine Erfahrung mit der stiefväterlichen Güte schildert, kommt die Großzügigkeit des Erwachsenen gar nicht gut an. Die Wertewelt des Grüppchens ist fast masochistisch auf heldenhafte Strenge fixiert; Vergebung ist hier eine zu bestrafende Schwäche. So steht diese Tugend auf der schwarzen Liste und trägt Offizier Ryuji – in einer Art Gerichtsverhandlung – insgesamt 150 Negativpunkte ein.

Nicht nur hat Ryuji Noborus inzestuöse Träume zerstört. Der freundliche Seebär will auch den Weltmeeren Adieu sagen, die er längst desillusioniert befährt. Sein Glück sieht Ryuji hinkünftig in der Boutique von Noborus Mutter Fusako Kuroda. Was für ein Verrat, befindet die jugendliche Gruppe! Nicht nur fällt sie das Todesurteil. Sie vollstreckt es auch unter perkussivem Gedonner mit Hammer und Fleischerbeil.

Blut "fließt" an der Staatsoper gewissermaßen aber nur in Henzes Musik. Das Schlussbild der Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito präsentiert eine in Rot getauchte starre Menschenskulptur aus dem Opfer und dessen juvenilen Mördern. Das verratene Meer endet quasi als Andeutung.

Wohldosierte Drastik

Genau darin jedoch offenbart sich die konsequent unaufgeregte, psychologisch hellsichtige Handschrift der Regie. Sie verzichtet auf ausufernde Drastik, setzt auf wohldosierte, aber ausgestaltete emotionale Ausbrüche.

Ob sich nun der Seemann impulsiv auf die Dame seines Herzens stürzt oder der Junge mit geballter Faust auf Gegenstände einschlägt, weil der geile Alte nicht endlich wieder in See stechen will: Es bleibt bei einer übertreibungsfreien Schilderung eines zum Mord führenden (Generationen-)Konflikts.

Die Eleganz der klar erzählten Geschichte wird durch die Gestaltung der musikalischen Zwischenspiele gewissermaßen vergoldet. Die instrumentalen Brücken zwischen den Szenen werden mit traumartigen Sequenzen aufgeladen, in denen sich für die Figuren Ängste oder Wünsche materialisieren. Da wird die Boutique für die Mutter zum Gefängnis, oder es tanzt der Seemann ausgelassen seinem neuen Leben entgegen. Der flexible Raum ist in diesem Sinne eine Unterstützung: Das graue Einheitsbühnenbild von Anna Viebrock lässt das kalte Industrieflair mitunter einer intimen Schlafzimmeratmosphäre weichen. Leichtfüßig gelingt die Transformation des Hafenambiente in Räume privater Heimeligkeit. Die Wut von Sohn Noboru (vokal tadellos, vielleicht etwas banal im Ausdruck von Wut Josh Lovell) spiegelt sich natürlich in der orchestralen Dramatik, die allerdings auch nie plakativ daherkommt.

"Eingezäunt" von perkussiven Strukturen (des Beginns und des Finales) sind die gewaltigen Ausbrüche als Beispiele philharmonischer Klangkultur zu erleben. Den Entladungen werden als Gegensatz u. a. intime Harfen- oder Klaviermomente gegenübergestellt, woraus extreme Kontraste erwachsen. Henzes freitonale, klangsinnliche Meisterschaft bietet generell einen nie abebbenden Energiefluss, den das Staatsopernorchester farbenreich nutzt. Unter der Leitung von Simone Young bringt es jedweden Aspekt mit Feinheit und eleganter Impulsivität zur Geltung.

Ausgelassene Tanzepisoden sind dabei. Diskret mutieren sie zu motorischen Repetitionsstrukturen, die bisweilen in einen romantischen Tonfall münden, der die Sehnsüchte der Figuren trägt. Die so dichte wie poetische Partitur ist mit ihrer distinguierten Nervosität der Hauptdarsteller des Werks.

Mit Mörder Tee trinken

Das hochkarätige Ensemble vermag die orchestrale Energie allerdings jederzeit hörbar aufzugreifen: Packend und zugleich lyrisch-glanzvoll Vera-Lotte Boecker als Boutiquenbesitzerin Mutter Fusako, die am Ende als Nervenbündel erscheint. Sie wirkt, als würde sie ahnen, dass ihr Neogatte gerade mit seinen Mördern Tee trinkt.

Bo Skovhus bleibt imposant in seiner mit Wehmut angereicherten Linienführung (als Offizier Ryuji). Die Darstellung des Dramatischen ist ohnedies nach wie vor eine seiner zentralen Stärken. Nicht zu vergessen: Erik Van Heyningen (als Gang-Führer) wie auch Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler (als pubertäres Gefolge) ergänzen die tolle Ensembleleistung, die sich bei andächtiger Studioaufnahmeatmosphäre entfalten musste. Bedauerlich, aber immerhin wurde gestreamt.

Dennoch: Nach drei von anderen Häusern übernommenen Produktionen ist diese Henze-Oper die erste echte Eigenbaupremiere der neuen Direktion Bogdan Roščić. Jene wenigen, die von Berufs wegen dabei waren, hätten der Produktion also den obligaten Fight zwischen Applaus und Buhs gegönnt. (Ljubiša Tošić, 15.12.2020)