Vor einigen Tagen sah Russlands Präsident Wladimir Putin, auf die Vergiftung Alexej Nawalnys angesprochen, noch keinen Grund für Ermittlungen, nur weil "eine Person fast gestorben ist". Doch die Frage dürfte ihn schon bald wieder einholen, denn die Jahrespressekonferenz steht an.

Aufgrund von Covid-19 hat der Kreml das Format zwar geändert, sodass es ein Mix aus Pressekonferenz und TV-Audienz mit den russischen Bürgern ist. Zudem ist der Präsident nicht live vor Ort im Internationalen Moskauer Handelszentrum, wo die Journalisten platziert werden, sondern nur aus seiner Residenz in Nowo Ogarjowo zugeschaltet.

Ein- und Ausblick

Trotzdem dürfte er der Frage bei der traditionell mehrstündigen Großveranstaltung, bei der er seinen Ein- und Ausblick auf das Leben in Russland und die Entwicklung der internationalen Politik gibt, kaum entkommen. Zu konkret sind die neuen Vorwürfe um die Vergiftung Nawalnys mit einem chemischen Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe.

Alexej Nawalny bei einer Anhörung in Brüssel im November.
Foto: EPA/Hoslet

Der Oppositionspolitiker selbst hat am Montag die Anschuldigungen präsentiert, basierend auf Enthüllungen der britischen Investigativplattform "Bellingcat" und des russischen Recherchemagazins "The Insider". Demnach waren in die Vergiftung acht Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB verwickelt.

Datenhandel

Die Täter wurden aufgrund von Telefonanrufen und Geolocation ihrer Handys namentlich ermittelt. Sie sollen Nawalny schon seit Jahren beschattet haben. Bei den Recherchen kam den Ermittlern nach Angaben Nawalnys das korrupte System des Datenhandels in Russland zugute. So kann man die eigentlich geheimen Telefon-, aber auch Buchungsdaten von Flug- und Zugtickets in Russland kaufen.

Offiziell hat der Kreml noch nicht auf die neuen Vorwürfe reagiert, aus Kreml-nahen Medien wurden sie aber einmal mehr mit dem Argument "Wenn der Geheimdienst gewollt hätte, dann hätte er Nawalny auch getötet" gekontert. In die gleiche Richtung dürfte auch Putin – unter peinlichster Vermeidung einer Nennung Nawalnys selbst – am Donnerstag argumentieren. In der Vergangenheit hat er so bereits die Auslieferung seines Erzfeinds an Deutschland als Beweis einer Unschuld des Kreml präsentiert.

Ungemach

Richtig glaubwürdig waren die Gegenangriffe und Thesen Moskaus, die zuletzt sogar Berlin unterstellten, den bereits im Koma liegenden Nawalny auf dem Flug nach Deutschland vergiftet zu haben, nicht. Und so könnte nach der Pressekonferenz weiteres Ungemach drohen.

Denn zwar hat Putin nun auch als einer der letzten Staatschefs weltweit Joe Biden zum Wahlsieg in den USA gratuliert, doch mit dem Einzug des Demokraten ins Weiße Haus könnten die Sanktionen wegen des Falls noch einmal verschärft werden. Die Demokraten gelten im Vergleich zu den Republikanern grundsätzlich als ideologisch schärfere Gegner Moskaus.

Schwarze Liste

Waren die Sanktionen des scheidenden US-Präsidenten Donald Trump gegen Nord Stream 2 vor allem darauf ausgerichtet, der amerikanischen Öl- und Gaslobby den Weg nach Europa zu öffnen, so dürfte unter Biden wieder verstärkt das Augenmerk auf Menschenrechtsverletzungen liegen.

Als beinahe sicher gilt die Aufnahme der namentlich genannten Täter und Hintermänner des Falls auf die schwarze Liste der Amerikaner und Europäer. Neben dieser für den Kreml zu vernachlässigenden Strafaktion sind aber weitere Sanktionen, die Russlands Wirtschaft und Finanzen treffen, nicht auszuschließen. Der politische Druck und die damit verbundene Unsicherheit für Investoren bleiben jedenfalls noch eine Weile erhalten. (André Ballin aus Moskau, 15.12.2020)