Der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler war dieser Tage auf der Insel Lesbos, um sich gemeinsam mit der von der Schauspielerin Katharina Stemberger geleiteten Aktion "Courage" ein Bild von der katastrophalen Lage im Flüchtlingslager Kara Tepe zu machen. Gemeinsam mit dem Dompfarrer von St. Stephan in Wien rief der Bischof danach die Regierung und besonders Kanzler Sebastian Kurz dazu auf, die sture Ablehnung der Aufnahme von Kindern aus dem Lager aufzugeben.

Bundeskanzler Sebastian Kurz
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Kurz zuvor hatte der Präsident des österreichischen Nationalrats, Wolfgang Sobotka (ÖVP), zu einer Gebetsstunde im Parlament geladen. Die Feier (zum 8. Dezember, dem Fest der "Unbefleckten Empfängnis Mariä") wurde moderiert von der ultrakonservativ-katholischen ÖVP-Abgeordneten Gudrun Kugler, wichtiger Programmpunkt war eine Rede von Georg Mayr-Melnhof, dem Gründer der österreichischen Loretto-Gemeinschaft. Die versteht sich als jugendmissionarische, fast evangelikale Bewegung innerhalb der katholischen Kirche: "Wir sehnen uns nach einem neuen Feuer des Heiligen Geistes in unserem Land, nach einem neuen Pfingsten."

Hier stehen einander zwei wesentliche Flügel der katholischen Kirche in Österreich gegenüber: ein liberaler, der sich humanitär engagiert, besonders in der Flüchtlingsfrage, und in gesellschaftspolitischen Fragen offen ist; und ein fundamentalistischer, der sich für Flüchtlinge höchstens interessiert, wenn es um verfolgte Christen geht, und zu alten Positionen zurückwill: "Es gibt kein Recht auf Abtreibung" (Abgeordnete Kugler), "Kein Sex vor der Ehe" (Loretto).

Feurige Fundis

Die Fundamentalisten finden Gehör und Unterstützung in der neuen, türkisen ÖVP. Vor allem Kanzler Kurz hat eine gewisse Nähe zu solchen Bewegungen, die eine Wiedereroberung, eine Art "reconquista", des verlorengegangenen Glaubens (und seiner politischen Dominanz) anstreben. Kurz ist Trauzeuge seines Kabinettschefs Bernhard Bonelli, der an einer Opus-Dei-Uni in Barcelona studiert hat.

Die Szene in der Stadthalle, wo ein freikirchlicher Erweckungsprediger über einen leicht unbehaglich wirkenden Sebastian Kurz Gottes Segen herabflehte, ist berühmt, aber weniger bekannt ist, dass Kardinal Schönborn und Gudrun Kugler auch dabei waren. Sie waren offensichtlich von dem "Awakening Europe"-Feldzug des evangelikalen Predigers beeindruckt. Unter Schönborns Vorsitz hat sich die Bischofskonferenz heuer für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos ausgesprochen. Aber er will offenbar auch von der Mobilisierungskraft der feurigen Fundis profitieren.

Das liberale Christentum in Österreich ist nicht schwach. Die Caritas ist eine Großorganisation, ihr Präsident Michael Landau und Generalsekretär Klaus Schwertner setzen sich oft genug für Flüchtlinge ein. Der frühere Raiffeisen-Chef Christian Konrad mit seiner humanitären Organisation Menschen.Würde.Österreich nennt die Kurz-Linie zum Lager Lesbos "böswillig". Der evangelische Bischof Michael Chaloupka war in der Diakonie Österreich massiv engagiert. In ungezählten christlichen Kreisen verhelfen Privatleute Flüchtlingen zu einem neuen Leben.

Doch Sebastian Kurz setzt aus persönlicher Überzeugung, aber auch aus politischem Kalkül auf die Kraft der christlichen Hardliner. (Hans Rauscher, 15.12.2020)