Seit Jahren ist die bosnische Stadt Bihać Ausgangspunkt für die Versuche von Migranten, in die EU zu gelangen. Ohne Unterkunft können sie hier nicht überleben.

Foto: EPA / Jean-Christophe Bott

Die Wiese ist matschig, die Schuhe sind nass, die Zehen eisig, die Hosen voll feuchten Lehms. Wer ohne Trekking-Schlafsack bei Minustemperaturen für nur eine Nacht im Schlamm übernachten muss, ist nicht zu beneiden. Für die etwa 250 Migranten, die hier in der Nähe der nordbosnischen Stadt Bihać campen, ist das allerdings der Normalfall.

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"The Game"

Helfer der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben die Leute entdeckt und sind nun mit Bussen gekommen. Sie verteilen Essensrationen an jeden der meist jungen Männer, die sich in einer Reihe auf der Wiese aufstellen. Die Männer kommen aus Pakistan, Afghanistan und Bangladesch. Sie wollen heute wieder einmal versuchen, über die Bergkette, die von hier aus zu sehen ist, auf die kroatische Seite zu kommen.

"The Game" nennen sie die Versuche, den kroatischen Grenzbeamten zu entwischen. Oft probieren es die Männer zehnmal oder zwanzigmal. Es gibt Leute, die es vierzigmal versucht haben und schon viele Monate hier in der Nähe von Bihać hausen. The Game scheint Ähnlichkeiten mit der Aufgabe von Sisyphos zu haben, der einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen muss. Fast auf dem Gipfel, rollt die Last jedes Mal wieder ins Tal hinunter.

Wellen der Gewalt

Immer wieder werden die Migranten von den kroatischen Grenzbeamten zurück nach Bosnien gebracht. Manchmal werden sie auch von ihnen misshandelt. Helfer erzählen, dass es Wellen der Gewalt gibt. Wenn besonders viele Leute versuchen, illegal über die Grenze zu gelangen, etwa im Sommer, kommt es teils zu Exzessen. Dann wieder ist wochenlang von keinen Übergriffen zu hören.

Die Situation hier an der Grenze ist seit fünf Jahren angespannt. Es ist so ähnlich wie im französischen Calais, wo Migranten campen, um über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu kommen. Der Traum, in die EU zu migrieren, ist hier in Bihać zum Greifen nahe. Die kroatischen Behörden haben aber mittlerweile eine Schneise im Wald gerodet, um die Grenze besser mit Drohnen überwachen zu können. Auch ein Zaun soll gebaut werden. Aber wenn nun auch der Schnee kommt, gibt es ohnehin keine Chance mehr, über die Berge zu gelangen.

Hilfsleistungen verhindert

Zurzeit befinden sich etwa 1000 bis 1500 Migranten im Kanton Una-Sana, die im Freien oder in Abbruchhäusern schlafen. Deshalb fordert die EU seit Wochen, dass man die Halle Bira, in der bis zum Sommer tausende Migranten untergebracht waren, wieder öffnet. Doch das Camp Bira ist bei der Bevölkerung unbeliebt, denn es liegt mitten in der Stadt. Und die Einwohner von Bihać leiden seit Jahren darunter, dass tausende Migranten von ihrer Stadt aus zu "The Game" aufbrechen.

Auch die Kantonsregierung von Una-Sana will die Migranten möglichst loswerden. Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz – aber auch die vielen Privatinitiativen – werden deshalb daran gehindert, den Migranten in der Stadt Essen zu bringen, weil sie angeblich dadurch in Bihać gehalten werden.

Szenen auf einer Wiese, auf der die Migranten ohne jeglichen Schutz lagern, in der Nähe von Bihać (Bosnien-Herzegowina).
DER STANDARD

"Sie werden im Schnee sterben"

Der Leiter der IOM-Mission in Bosnien-Herzegowina, Peter Van der Auweraert, warnt, dass die Menschen, die jetzt noch ohne Unterkunft sind, "im Schnee sterben werden", wenn die Regierung nicht sofort neue Lager öffnet. Das Lager Lipa, etwa 25 Kilometer außerhalb der Stadt, ist nicht winterfest und muss dringend aufgerüstet und deshalb vorübergehend gesperrt werden. Die EU-Finanzierung ist bereits im November ausgelaufen. "Wir fordern seit Monaten, dass das Lager an Elektrizität und Wasser angeschlossen wird", sagt Van der Auweraert zum STANDARD. "Aber es ist nichts passiert. Deshalb wird die IOM noch bis heute, Mittwoch, hier in Lipa bleiben, dann wird es hier keinen Strom und kein Wasser mehr geben", kündigt er an.

Einige Migranten sind bereits aus Lipa weggegangen, weil sie wissen, dass das Lager geschlossen wird. Ab dieser Woche sind wegen mangelnden politischen Willens die Gesundheit und das Leben von insgesamt 3000 Menschen in höchster Gefahr, weil sie im strengen bosnischen Winter bei Kälte und Nässe im Freien ausharren müssen.

Schreckliche Katastrophe

Diesen Mittwoch soll im Parlament in Sarajevo eine Entscheidung fallen. In der Nähe von Tuzla wurde eine Kaserne ausgemacht, aber es fehlt noch der Beschluss, sie für die Migranten zu nutzen, sowie für die Wiedereröffnung des Lagers Bira. Beide Unterkünfte sind für das Überwintern lebensnotwendig. "Wir müssen diese Woche eine Lösung finden", warnt Van der Auweraert vor einer humanitären Katastrophe.

Shahmeer L. hat sich ein paar Polster auf den Betontisch vor einem Container gelegt. Über ihm hängen Plastikweihnachtsgirlanden, vor ihm sind die afghanische und die bosnische Flagge an der Containerwand zu sehen. Drinnen im Container bereiten ein paar junge Männer ein afghanisches Reisgericht zu.

"Besser als nichts"

Shahmeer ist seit fünf Monaten hier im Camp Lipa, in einem der riesigen weißen Zelte, die als Festzelte in der Schweiz produziert werden. Der Mann aus Dschalalabad ist vor zweieinhalb Jahren aufgebrochen, um nach Italien oder Frankreich zu gelangen. Mehr als ein Jahr lang war er in einem türkischen Lager. "Dann war ich in Bulgarien, dann in Serbien, dort war das Wetter auch schlecht", berichtet er von seiner Odyssee.

"Vielleicht komme ich in einem Jahr nach Italien oder in zwei. Es dauert eben", erzählt er von seinen bisher fehlgeschlagenen Grenzüberquerungen. Das Camp Lipa findet er toll, weil er dreimal am Tag Essen bekommt, ein Bett hat und die Zelte geheizt sind. "Ich sage immer: Das ist doch besser als gar nichts." Shahmeer weiß noch nichts davon, dass er nun auch das nicht mehr haben wird. (Adelheid Wölfl aus Bihać, 16.12.2020)