Um das Jahr 1600 trug der Hintereisferner zu einer Katastrophe im Tiroler Ötztal bei. Gemeinsam mit weiteren Eismassen speiste er einen Gletschersee, der vom Vernagtferner, der sich in der damaligen Kleinen Eiszeit überraschend schnell und weit ins Tal hinunterschob, aufgestaut wurde. Irgendwann wurde die Last des Wassers zu groß: Der Gletschersee brach aus und verwüstete Siedlungen bis weit draußen im Tal. Sogar im Inn bei Innsbruck sollen noch Eisbrocken geschwommen sein.

Der Hintereisferner vor der Weißkugel (3.738 m): Historisch gesehen ist der Gletscher – einer der größten der Ostalpen – inzwischen ein Schatten seiner selbst.
Foto: Robbie Shone

Heute sind die Gletscher am Alpenhauptkamm hinter dem Touristenort Vent, der am Fuß der Wildspitze (3.768 m), dem höchsten Berg Tirols, liegt, vom Klimawandel geprägt. Der Hintereisferner, der sich durch ein langgezogenes Tal am Fuß der mächtigen Weißkugel (3.738 m) an der Grenze Österreichs zu Italien erstreckt, ist mit über sechs Qua dratkilometer noch immer einer der größten Gletscher der Ostalpen. Doch sein Eis schmilzt schnell: Seit 1950 hat er einen Kilometer an Länge verloren, seit 1910 gut zwei. Folgen ein paar heiße Sommer auf einander, kann er in fünf Jahren 100 Meter verlieren. Im Mittel büßt er einen Meter Eisdicke pro Jahr ein.

Im Hochtal nebenan ist vor 30 Jahren Ötzi, die berühmte Gletschermumie, ausgeapert. Den Hintereisferner macht aber eine andere Sache besonders: Er ist wohl der am besten dokumentierte und erforschte Gletscher Österreichs – auch wenn in dieser Hinsicht viele weitere wie der Jamtalferner oder die Pasterze nicht sehr weit dahinterliegen. Die historischen Erwähnungen des Hintereisferners reichen bis zum erwähnten Seeausbruch zurück – ein Ereignis, das damals auch eine der ersten bekannten bildlichen Gletscherdarstellung zur Folge hatte.

Zwei Messmethoden

Bereits in den 1890er-Jahren gab es hier Tiefenbohrungen und Bewegungsmessungen, schon davor wurden Karten angefertigt. 1953 war der Hintereisferner der erste Gletscher Österreichs, von dem eine Massenbilanz angefertigt wurde. "Damit gehört er zu den fünf ersten Gletschern weltweit, auf denen nach dem Zweiten Weltkrieg Massenbilanzmessungen durchgeführt wurden", erklärt der Glaziologe Rainer Prinz vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck. "Früher waren nur ein Gletscher in Schweden und ein oder zwei in den Rocky Mountains dran."

Eine historische Karte vom Hintereisferner aus dem Jahr 1894.
Foto: Rainer Prinz

Prinz kümmert sich um die gegenwärtige Datensammlung am Hintereisferner. Die Massebilanz, also die Differenz aus jährlichen Zugewinnen und Verlusten, wird hier heute auf zwei Arten erfasst. Zum einen mit der bewährten Methode der Pegelstangen, die ins Eis eingebohrt werden, um Niveauveränderungen auszumachen. Zum andern wurde 2017 ein Laserscanner installiert. Ferngesteuert in Innsbruck, tastet das Gerät die Oberflächen ab, woraus sich ein Geländemodell errechnen lässt. Aus mehreren Messungen lassen sich Höhen-, Volumens- und Masseänderungen ableiten. Die Daten werden zudem durch Lidar-Flüge – ein weiteres optisches Messverfahren – ergänzt.

Dramatische Verluste

Die Zeitreihe der jährlichen Massebilanzen ergibt ein von dramatischen Verlusten geprägtes Bild. Die letzten größeren Jahreszugewinne wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren gemessen, ein letztes ganz kleines Plus gab es Anfang der 1980er, dazwischen und danach liegen alle Werte im Minus. Die Spitzenwerte von heute überragen jene der 1980er und 90er bereits um zumindest ein Drittel.

Der Auslöser dieses Trends, der stellvertretend für die meisten Alpengletscher stehen kann, ist für Prinz eindeutig: "Nur unter Berücksichtigung des anthropogenen Treibhauseffektes lässt sich die Entwicklung der Alpengletscher seit der Kleinen Eiszeit erklären. Der anthropogene Einfluss nahm dabei kontinuierlich zu und liegt mittlerweile bei 100 Prozent." Die Entwicklung der Massenbilanz ist für ihn "ein direktes Bindeglied zwischen Klima und Gletscher".

Landschaft in Bewegung

Sofern die Wetterverhältnisse es erlauben, werden täglich Lasermessungen durchgeführt. "Es läuft gerade ein Projekt, das anhand dieser Daten die Schneeumverteilung im Winter untersucht", gibt Prinz ein Beispiel für aktuelle Forschung. Die Beobachtungen werden zur Validierung atmosphärischer Modelle verwendet. Die zentrale Frage: Bestätigen die Messdaten als "ground proof", was die hochaufgelöste Modellierung der Luftbewegungen voraussagt?

Gletscher und darüberliegende Atmosphäre sind in komplexen Interaktions- und Austauschprozessen miteinander verbunden. Verwirbelungen und Temperatureffekten über dem zerklüfteten Eis nachzuvollziehen ist nicht leicht. Im Sommer 2018 wurde etwa eine ganze Kette von Wetterstationen am Gletscher platziert, um die Vorgänge besser abbilden zu können. Forschungen wie diese können letztendlich auch zu der großen Frage beitragen, ob und wie sich das Verschwinden der Gletscher auf das lokale Klima auswirken wird. Prinz: "Wenn das Eis der Alpen ganz verschwindet, könnte das auch Auswirkungen auf die Zirkulation in den Bergtälern haben. Darüber wissen wir aber noch nicht viel."

Der Hintereisferner erlebte – wie viele andere Alpengletscher – um 1850 einen letzten Höchststand. Dort wo sich damals Eismassen wälzten, ist nun blanker Talboden. "Die Bergflanken sind hier sehr steil, und Starkregen und Gewitter lösen Muren aus. Unten sammelt sich Geröll an. Die Landschaft verändert sich von Monat zu Monat", schildert Prinz. In die Zukunft gedacht, wird diese Entwicklung die Anmutung des ganzen Gebirges verändern. Irgendwann in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert wird der Hintereisferner wohl so stark zurückgegangen sein, dass man nicht mehr von einem Gletscher sprechen kann. (Alois Pumhösel, 5.1.2021)