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Die unterhaltungsmediale Darstellung des Spitalsalltags (hier eine Szene aus "Grey's Anatomy") stimmt nicht mit der Realität überein, erfährt man bei einem Kunstfehlerprozess.

Foto: AP/Mitch Haaseth

Wien – Folgt man Verteidiger Herbert Eichenseder, hat Chirurg P. für seine Kollegialität mit einem Strafverfahren bezahlt. Denn eigentlich hätte ein anderer, jüngerer Arzt am 24. Mai 2018 den Zwerchfellbruch von Frau W. operieren sollen. Da P. aber über 20 Jahre Erfahrung bei dieser Art von Eingriff verfügt, bat der zweite Mediziner P., zu übernehmen. Am nächsten Vormittag war Frau W. tot. Innerlich verblutet, da bei der Operation unbemerkt ihr Herzbeutel aufgestochen wurde. Aus Sicht der Staatsanwältin eine grob fahrlässige Tötung durch den 61-jährigen Angeklagten, für die ihm bis zu drei Jahre Haft drohen.

Richterin Beatrix Hornich hat sich offenbar gut vorbereitet, medizinische Fachbegriffe und Markennamen von Operationsutensilien gehen ihr flüssig von den Lippen, auch aus Fachjournalen zitiert sie. Zusammengefasst kann man die Problematik so beschreiben: P. ist es gewohnt, bei diesen Operationen ein Produkt namens Absorbatack zu verwenden, eine schraubenartige Vorrichtung, um im Körper etwas zu befestigen. Als er das bei der Operation von Frau W. anwenden wollte, stellte sich heraus, dass es im Spital nicht mehr vorrätig war. Also verwendete er erstmals in seinem Leben den vorhandenen Securestrap, wo, laienhaft ausgedrückt, eine Art Harpune statt einer Schraube verwendet wird.

"Harpune" und "Schraube"

In der Bedienungsanleitung von Securestrap wird allerdings darauf hingewiesen, dass es wegen der Nähe des Herzbeutels nicht bei Zwerchfellbrüchen verwendet werden sollte. Denn die "Harpune" ist ein wenig länger als die "Schraube", kann also das lebenswichtige Organ leichter erwischen.

P. übernimmt die Verantwortung für den Tod von Frau W., erklären kann er ihn sich nicht. Der OP-Verlauf sei völlig unauffällig gewesen, auch danach habe die Patientin nicht über Beschwerden geklagt, berichtet der Unbescholtene. Dass ein benötigtes medizinisches Utensil nicht lagernd sei, sei ihm noch nie passiert. Er habe dann eben die "Harpune" verwendet, ohne sich die Gebrauchsanleitung durchzulesen.

"Sie sind ja öfters in Körpern unterwegs", beginnt die Anklägerin ihre Fragen. Dass Zwerchfell und Herzbeutel also knapp beisammen liegen, ist dem Angeklagten, der auch von Kollegen als erfahrener Operateur beschrieben wird, bewusst gewesen. Gerade deshalb versteht es die Staatsanwältin nicht, warum P. die bis dahin von ihm noch nie verwendete "Harpune" einsetzte, anstatt nach einer Alternative zu suchen.

Fernsehen und Realität

Sie wundert sich auch darüber, dass P. nicht vor Beginn der Operation überprüft hat, ob alles Nötige vorhanden ist. "Da gibt es doch so einen Bestecktisch, liegt da nicht schon alles drauf? Ich kenn das nur aus dem Fernsehen." – "Ppphh, Fernsehen", weist der Angeklagte auf den Unterschied zwischen Realität und Fiktion hin. "Wie die Anwaltsserien", sieht auch Richterin Hornich den Justizalltag in Unterhaltungsmedien falsch dargestellt. Die OP-Schwester kümmere sich darum, wenn etwa besorgt werden müsse, erklärt der Angeklagte.

Die Aussage des vom Gericht bestellten chirurgischen Sachverständigen Wolfgang-Ulf Wayand ist etwas verwirrend. In seinem schriftlichen Gutachten hat er noch festgehalten, dass der Eingriff nicht lege artis, also kunstgerecht erfolgt sei. Nun spricht er davon, der Angeklagte habe "großes Pech" gehabt: Wenn er die "Harpune" zwei Zentimeter weiter rechts oder links eingesetzt hätte, wäre nichts passiert. "Ein auffallend sorgloses Verhalten kann man P. sicher nicht unterstellen", hält Wayand fest.

Verteidiger Eichenseder schöpft Hoffnung und bringt die in Kunstfehlerverfahren häufig verwendete Wendung "schicksalshafter Verlauf" ins Spiel. Und er setzt Richterin Hornich den Floh ins Ohr, ob der Stich in den Herzbeutel nicht auch bei den Wiederbelebungsmaßnahmen passiert sein könnte, nachdem Frau W. am nächsten Vormittag kollabiert war. Es folgt eine komplizierte Erörterung mit dem Sachverständigen, der aber schließlich ein klares Urteil abgibt: Der kleine Stich müsse während der Operation passiert sein.

Taxifahrten zwischen Spitälern

Die Staatsanwältin kann Wayand schließlich darauf festnageln, dass es nicht lege artis sei, bei einer Operation ein unbekanntes Gerät erstmals zu verwenden. Und dass es durchaus Alternativen gegeben hätte: Man erfährt überrascht, dass es schon vorgekommen sei, mit dem Taxi aus anderen Krankenhäusern fehlendes Material liefern zu lassen.

Hornich verurteilt P. schließlich nicht, wie angeklagt, wegen grob fahrlässiger Tötung, sondern lediglich wegen fahrlässiger Tötung von Frau W. zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 80 Euro, insgesamt also 14.400 Euro. Verteidiger und Staatsanwältin geben keine Erklärungen ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 16.12.2020)