Tunis, 14. Jänner 2011: An diesem Tag verließ der Autokrat Zine El-Abidine Ben Ali das Land.

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Im Nahen Osten ist in den vergangenen zehn Jahren, seit der sogenannte Arabische Frühling demonstrierende Menschen in vielen Ländern auf die Straßen brachte, kein Stein auf dem anderen geblieben. Über die individuellen Schicksale der betroffenen Menschen und über die Folgen für die "Arabellion"-Staaten – Umstürze, Kriege, Reform oder aber Repression und Regression – hinaus sind Entwicklungslinien zu verzeichnen, die die Region radikal verändert haben. Hier ein Versuch, ein paar Pflöcke einzuschlagen:

Der politische Aufstieg der Muslimbrüder und der Rückschlag: Der Sturz alter nationalistischer arabischer Regime setzte religiöse Kräfte frei: Die gut organisierten Muslimbrüder profitieren. Sie gewinnen – als glaubwürdige politische Alternative für viele – Wahlen. Der Backlash lässt nicht lange auf sich warten: Erstens erweisen sie sich teilweise als demokratieunfähig, zweitens haben viele Menschen Angst davor, dass ihre säkularen Diktaturen durch islamistische abgelöst werden – und drittens schlagen alte Regimekräfte zurück. Auf den Höhenflug der Muslimbrüder folgt der tiefe Absturz, der bis heute andauert.

Katars regionaler Aufstieg und Fall: Katar unterstützt die Revolutionen und die aufsteigenden Muslimbrüder – und steigt dadurch erst einmal zu einer gestaltenden arabischen Kraft auf, auch in der Arabischen Liga. Die Abwehrbewegung ist auch hier stark und gipfelt 2017 in der Isolation des Landes durch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain und Ägypten.

Die Stärkung der regionalen Rolle des Iran und die Gegenbewegung: Bereits durch den Sturz Saddam Husseins im Irak 2003 wurde die regionale Rolle des Iran gestärkt, die Krise der arabischen Welt 2011 tat ein Übriges. Teheran interpretierte die Rebellionen allgemein als "islamisch". Hinter den Unruhen in Bahrain wird die Hand des Iran vermutet. All das verstärkt die Gegenbewegung gegen die Aufstände – und gegen Teheran.

Der Aufstand in Syrien haucht dem Jihadismus neues Leben ein: Nur in Syrien ist der Iran auf der Seite des Regimes – durch den Sturz Bashar al-Assads hätte Teheran regionalen Einfluss, auch im Libanon, verloren. Das trägt dazu bei, den Krieg in Syrien zu "konfessionalisieren": Er wird zum sunnitischen Jihad gegen Schiiten und das alawitische Regime. In Syrien erfuhr der spätere "Islamische Staat" seinen Aufschwung und schwappte von dort wieder in den Irak zurück.

Saudi-Arabien erhebt den Führungsanspruch: Riad, die 2011 aufgeschreckte Status-quo-Macht, nimmt ab 2015 die Herausforderung an: durch den Iran als auch durch den Muslimbrüder-Islam und ihren islamischen Republikanismus. Um als moderne Regionalmacht reüssieren zu können, muss im Land der Islam zurückgedrängt werden. Es kommt zu einer eigenen sozialen Revolution von oben in Saudi-Arabien, während sich die politische Repression noch verstärkt.

Die Türkei besinnt sich auf ihre Geschichte als Regionalmacht: Präsident Tayyip Erdogan sieht sich zuerst als Gewinner des Arabischen Frühlings – und danach als Opfer der arabischen Gegenbewegung. Seine regionale Rolle gibt er jedoch nicht auf.

Die Vereinigten Arabischen Emirate werden zur Regionalmacht: Die VAE ziehen in den vergangenen Jahren das durch, was Katar nach 2011 nicht gelungen ist. Sie projizieren Macht weit über ihren Platz am Persischen Golf hinaus.

Der israelisch-palästinensische Konflikt tritt in den Hintergrund: Zur bereits vorhandenen politischen Ratlosigkeit in Bezug auf die Palästinenser kommt eine radikale Prioritätsverschiebung, vor allem für die arabischen Golfstaaten. Eine gemeinsame Front mit Israel gegen den Iran, aber auch den Islamismus der Muslimbrüder ist wichtiger als das Schicksal der Palästinenser. Die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel wird verstärkt – und 2020 auch politisch offengelegt.



Wie sich die einzelnen Staaten in den vergangenen Jahren entwickelt haben, im Überblick:


TUNESIEN

Als unmittelbarer Auslöser der arabischen Protestbewegungen von 2011 gilt die Selbstverbrennung des jungen Straßenhändlers Mohammed Bouazizi in Sidi Bouzid. Die auf die Tat folgenden Massendemonstrationen konnte das Regime nicht mehr unter Kontrolle bringen: Am 14. Jänner verließ Präsident Zine El-Abidine Ben Ali, der seit 1987 an der Macht war, Tunesien und ging nach Saudi-Arabien ins Exil, wo er 2019 83-jährig starb. Der Übergang zu einem demokratischen System war und bleibt schwierig, aber Tunesien – in dem es einen starken islamistischen Sektor, aber auch zivile Traditionen gibt – ist eindeutig das erfolgreichste Arabischer-Frühling-Land. Ernüchternd ist die soziale und wirtschaftliche Bilanz: Die Probleme, die zur Revolte in Ben Alis Kleptokratie führten, sind weitgehend ungelöst.

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ÄGYPTEN

Nach der Wahlfarce 2010 und erhöhter Polizeigewalt war die Unruhe in Ägypten bereits am Steigen gewesen, als der Funke aus Tunesien übergriff. Die Revolution wurde nach dem Datum der ersten Massendemonstration am 25. Jänner benannt. Präsident Hosni Mubarak, seit 30 Jahren an der Macht, versuchte, die Lage zu beruhigen, indem er versprach, auf eine neuerliche Kandidatur zu verzichten. Er wurde aber am 11. Februar vom Obersten Militärrat zum Rücktritt gezwungen. Prozesse in den folgenden Jahren gegen ihn gingen ins Leere, er starb 2020 91-jährig als freier Mann. Wahlen brachten die Muslimbrüder als stärkste Kraft ins Parlament und 2012 ins Präsidentenamt. 2013 erfolgte die Gegenrevolution durch General Abdelfattah al-Sisi, der sich inzwischen den Verbleib an der Macht bis 2030 gesichert hat.

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LIBYEN

Erste Proteste waren bereits Mitte Jänner 2011 ausgebrochen, Anfang Februar griffen sie auf das ganze Land über. Oberst Muammar al-Gaddafi, seit 1969 an der Macht, reagierte mit blanker Gewalt, als er die Kontrolle zu verlieren begann. Am 17. März verabschiedete der Uno-Sicherheitsrat eine Resolution, die eine militärische Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung erlaubte – was letztlich dazu führte, dass die Rebellen militärisch die Überhand bekamen. Gaddafi (damals 69) ging in den Untergrund und wurde am 20. Oktober von Kämpfern ergriffen und umgebracht. Der politische Prozess, der über Wahlen und eine neue Verfassung zu einer Demokratisierung führen sollte, entgleiste 2014; ein Bürgerkrieg und eine – noch bestehende – politische Spaltung zwischen Ost- und Westlibyen waren die Folge.

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SYRIEN

Proteste gegen das Regime von Bashar al-Assad – der 2000 seinen Vater Hafiz al-Assad als Präsident beerbt hatte – traten zuerst lokal auf, ab 2012 wuchsen sie sich zu einem landesweiten Aufstand aus. Bereits in einer frühen Phase gab es von der Türkei und aus den arabischen Golfstaaten Unterstützung für die Rebellen: für unterschiedliche islamistische Gruppen, von denen sich einige radikalisierten. Dem in Bedrängnis geratenen Assad sprang der Iran bei und mobilisierte auch die libanesische Hisbollah und andere schiitische Milizen. 2015 intervenierte Russland und verhinderte so einen Zusammenbruch des Regimes. Heute hat Assad (55) weite Teile des Landes wieder unter Kontrolle, in Idlib halten sich mit türkischer Hilfe Rebellen, im Nordosten üben Kurden mit US-Hilfe Kontrolle aus. Das Land ist schwer zerstört.

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JEMEN

Schon Ende Jänner 2011 begannen die Proteste gegen Ali Abdullah Saleh, seit 1978 Präsident Nordjemens und seit 1990 des vereinigten Jemen. Er war zunächst nur bereit, auf eine neuerliche Kandidatur und die seines Sohnes zu verzichten. In langen Vermittlungen erreichte der arabische Golfkooperationsrat, dass Saleh das Amt im Februar 2012 seinem Vizepräsidenten Hadi überließ: Dieser sollte den politischen Übergang gestalten. 2014 begann der Vormarsch der Huthis, einer zaidisch-schiitischen Rebellengruppe aus dem Norden. Als sie nach Sanaa auch die südliche Hauptstadt Aden erreichten, intervenierte im März 2015 eine von Saudi-Arabien geführte Militärkoalition. Die Huthis sind noch immer nicht geschlagen. Saleh, der sich 2015 den Huthis angeschlossen hatte, wurde 2017 75-jährig von ihnen umgebracht.

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BAHRAIN

In dem Inselstaat wird eine schiitische Bevölkerungsmehrheit von einem sunnitischen Königshaus regiert: Die Demonstrationen für mehr Demokratie, die Mitte Februar 2011 begannen und zur Errichtung eines Protestcamps in Manama führten, wurden demnach sofort den religiösen Schiiten und dem iranischen Einfluss zugeschrieben und mit massiver Gewalt unterdrückt. Noch mehr als gegen König Hamad bin Isa Al Khalifa wurde gegen seinen Onkel, den seit 1971 als Regierungschef tätigen und als Hardliner geltenden Premier Prinz Khalifa bin Salman – der im November 2020 fast 85-jährig starb –, demonstriert. Der regionale Kontext führte Mitte März 2011 zu einer vom Golfkooperationsrat gebilligten saudischen Truppenentsendung. Seitdem ist Bahrain politisch noch enger an Saudi-Arabien angegliedert.

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(Gudrun Harrer, 17.12.2020)