Im Gastkommentar schildert der Wandel-Vorsitzende Fayad Mulla die Situation vor Ort.

Es soll ohne hässliche Bilder gehen. Nicht weil die Schande in den Lagern und das Ertrinken an den EU-Außengrenzen zum Guten gelöst worden wäre. Nicht weil Kriegsregionen befriedet wurden oder die Klimakrise, die zum immer größeren Fluchtgrund wird, nachhaltig angegangen worden wäre. Nicht weil Menschen in Not mit Respekt und Würde behandelt werden.

Nein, es soll keine hässlichen Bilder – durch Zensur – geben. So zumindest der Versuch seit letzter Woche an einem der schrecklichsten Orte für Menschen auf der Flucht in Europa. Seitdem ist es den wenigen Helfern, die noch in das Massenlager Kara Tepe auf Lesbos dürfen, untersagt, Fotos und Videos von der Situation im Lager zu veröffentlichen.

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Kara Tepe im Oktober 2020.
Foto: Reuters / Elias Marcou

Eindeutige Bilder

Zu eindeutig haben diese Fotos in den letzten Monaten gezeigt, unter welchen erbärmlichen und menschenrechtswidrigen Zuständen Menschen in Not in einem EU-Staat zusammengepfercht sind. Für niemanden zu leugnen, hat die Welt das Armenlager auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz der griechischen Armee gesehen. Zu klar waren die Bilder der tausenden Kinder und ihrer Familien, die in Zelten bei Wind und Wetter ohne Heizung "leben" müssen. Zwei bis drei Familien in einem Neun-Quadratmeter-Zelt und natürlich auch alleinreisende Frauen und Männer aus aller Welt. Einzig alleinreisende Kinder, die ja manche reiche Staaten aufnehmen wollen, gibt es hier nicht. Auch kein Wunder, denn welches Kind macht sich allein auf die Reise nach Europa?

Sie leben hier mit ihren Eltern und Verwandten, ohne eine einzige Dusche für knapp 10.000 Menschen. Ohne warmes Wasser, nur stundenweise Strom, keiner Beleuchtung und mit Plumpsklos, deren Zustand und Geruch keinerlei Hygiene zulassen. Ohne Schulen für die Kinder und neben einem spärlichen Frühstück nur einer kalten Mahlzeit am Tag. Mit omnipräsenter Polizei im Camp, die zwar für mehr Sicherheit sorgt als noch im alten Moria-Camp, aber auch 300-Euro-Strafen verteilt, wenn jemand einsam mal kurz ohne Maske am Meer steht.

Ein Schlammfeld

Das Regenwasser fließt durch die selbstgegrabenen Kanäle überall durchs Lager und mündet in kleine Bäche, die durchs Lager Richtung Meer preschen. Und auch hier im europäischen Süden bringt der Winter eisigen Wind und kalte Nächte. Das kombiniert mit einer Pandemie, völligem Lockdown in ganz Griechenland und kaum Ausgang aus dem Lager lässt einen nur mehr fragend zurück, wie die Menschen trotzdem noch so friedlich und freundlich sind. Wahrscheinlich, weil sie auf den Überlebensmodus umgeschaltet haben und ihre wahren und zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit unterdrücken. Anders kann man es hier wohl nicht aushalten.

Und nun Zensur

Vergessen von der Welt und übersät mit Hasskommentaren in den klassischen wie in den neuen Medien, bekommen die Menschen von der demokratischen Welt die kalte Schulter. Wären da nicht noch die Menschen, die meist ehrenamtlich bei NGOs arbeiten und mit Händen und Füßen ringend versuchen, das schlimmste Leid zu lindern, indem sie Kleider, Nahrung, Solarduschen und vieles mehr verteilen.

Ich bin einer von ihnen. Seit fast sechs Wochen hier auf Lesbos und nun, wie alle anderen, mit Zensur belegt. Wer weiterhin Bilder oder Videos aus dem Lager veröffentlicht, darf es nie wieder betreten. Aus den Augen, aus dem Sinn ist die Devise der griechischen Regierung, die wie viele Rechtspopulisten Teil der europäischen sogenannten Christdemokraten ist. Wenn man die Bilder aus den Lagern wie Kara Tepe oder vielen anderen Hotspots an den EU-Außengrenzen wie auch in Bosnien kennt, weiß man, dass Nächstenliebe und Gerechtigkeit keine europäischen Werte mehr sind. Das gilt für die Menschen auf der Flucht genauso wie europäische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die von Armut betroffen sind.

In Zeiten des Internets wird die Zensur nicht gelingen. Die Menschen auf Lesbos posten ihre Bilder selbst – und sie verbreiten sich über Social Media weiter. Jetzt sind die Journalisten gefragt, der breiten Masse zu zeigen, welche Bilder für Europas Rechte und Rechtspopulisten zu unangenehm sind. (Fayad Mulla, 16.12.2020)