"Der zweite Lockdown fällt uns aufgrund von Erschöpfung und Enttäuschung viel schwerer als der erste – unsere Widerstandskraft sinkt", erklärt Günter Klug, Psychiater und Psychotherapeut.

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"Stille Nacht, heilige Nacht" – der Gedanke an die bevorstehenden Feiertage weckt nicht bei jedem besinnliche Assoziationen. Denn für viele bleibt das feierliche Beisammensein im Kreis der Familie dieses Jahr ein kaum verwirklichbarer Wunsch.

Die Pandemie wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger für ein Gefühl, das in unserer Gesellschaft ohnehin schon eine seelische Belastung darstellt. Ein Gefühl, vor dem niemand gefeit ist: die Einsamkeit. Und die hat viele Gesichter.

"Selbst in einem Raum voller Menschen kann man sich einsam fühlen", beschreibt es Günter Klug, Präsident von Pro Mente Austria, dem Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind. Die Initiatoren warnen vor den Folgen einer Vereinsamung immer breiterer Bevölkerungskreise und sind der Überzeugung, dass Strukturen zur Hilfe und Selbsthilfe auch angesichts bevorstehender Corona-bedingter Sparprogramme gesichert bleiben müssen.

Covid trifft jeden anders

Noch nie hat eine Krankheit weltweit das Leben so vieler Menschen in so kurzer Zeit so radikal verändert. "Viele selbstverständliche Formen des Kontakts sind stark eingeschränkt oder der Pandemie gänzlich zum Opfer gefallen", erklärt Günter Klug, Psychiater und Psychotherapeut. Vereinsamung sei aufgrund der Corona-bedingten Maßnahmen zu einem Massenphänomen geworden. Gleichzeitig weist Klug aber auch darauf hin, dass dieses Phänomen schon längst vor der Pandemie aufgetreten sei, die Pandemie aber diese gesellschaftliche Entwicklung "wie unter einem Brennglas in radikaler Weise verstärkt und ans Tageslicht gebracht hat".

Sonja Hörmanseder, Leiterin der Krisenhilfe Oberösterreich, weist aber vor allem darauf hin, dass die Vereinsamung "quer durch alle Altersgruppen" und "quer durch alle sozialen Schichten" in Erscheinung trete – wobei eine angespannte finanzielle Situation das Problem häufig noch zusätzlich verschärfe. "Rund um die Weihnachtsfeiertage wird diese oft radikale Entwicklung vielen Menschen besonders schmerzhaft bewusst", betont sie.

Für Klug ist der Begriff "Social Distancing" gerade jetzt in diesem Zusammenhang eine "grausliche" und "völlig unpassende Wortwahl", da gerade jetzt vor allem der soziale Zusammenhalt gefordert sei, um solidarisch gut durch die Krise zu kommen. "Unser Denken wird durch solche Begriffe beeinflusst. Im Sinne eines positiven Mind-Settings wäre es deshalb wichtig, den Begriff 'Social Distancing' durch 'Physical Distancing' zu ersetzen", so der Experte.

Globale Einsamkeit

Eine europaweite Studie des Unternehmens Kaspersky zeigt, dass im ersten Lockdown etwa 47 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher zumindest gelegentlich Einsamkeit empfanden. Der EU-Schnitt liegt bei 52 Prozent. Die jüngere Generation war besonders stark davon betroffen. 70 Prozent glauben zwar, dass die Digitalisierung geholfen habe, mit anderen zumindest virtuell in Kontakt zu bleiben. Nur 42 Prozent glauben, dass die virtuelle Kommunikation aber auch dabei helfe, Einsamkeit zu bekämpfen. Aus dem ersten Lockdown belegen Untersuchungen, dass der psychische Stress deutlich gestiegen ist. Ältere Menschen wurden zu ihrem eigenen Schutz ausgegrenzt, verloren dadurch Kontakte und vereinsamten.

Bereits im Vorjahr hat sich die Weltgesundheitsorganisation WHO besorgt gezeigt, dass immer mehr Menschen alleine leben und auch ihre Zeit alleine verbringen. "Einer Statistik zufolge verbringen in der EU sieben Prozent der Bevölkerung nie Zeit mit Freunden und Verwandten. Und das Jahr für Jahr", verdeutlicht Klug den Ernst der Lage. "Das ist eine Entwicklung, die durch die Pandemie natürlich noch verschärft wird." Das Bewusstsein für die Problematik ist europaweit unterschiedlich ausgeprägt. So wurde in England bereits 2018 ein eigenes "Ministerium für Einsamkeit" geschaffen.

Bin ich einsam?

"Einsamkeit zeigt sich dann, wenn keine geeignete Bezugsperson da ist, keiner, dem ich mich anvertrauen möchte", beschreibt Sonja Hörmanseder die Umstände. Besonders betroffen davon waren bisher gemeinhin Menschen mit chronischen Erkrankungen, psychisch belastete bzw. erkrankte Menschen, ältere Menschen und unfreiwillig Alleinlebende.

Im Zuge der Covid-19-Pandemie zieht die Vereinsamung aber breitere Kreise als bisher. Hörmanseder bezeichnet es als "Phänomen". So seien jetzt beispielsweise verstärkt auch Personengruppen, die an sich eigentlich "mitten im Leben stehen", aber auch Jugendliche und junge Erwachsene, die "derzeit keine Freunde treffen dürfen bzw. in der Partnersuche behindert sind", betroffen. Aber auch all jene, die sich eigentlich bewusst dazu entschieden haben, alleine zu leben, ihre Alltagskontakte derzeit aber überhaupt nicht wahrnehmen dürfen. Kritisch ist die Lage auch für Alleinerzieherinnen, die mit ihren Belastungen noch mehr als sonst auf sich allein gestellt sind, ähnlich wie frisch pensionierte Personen, heißt es weiter.

Altersresilienz

Viele alte Menschen vereinsamen aber tatsächlich massiv durch die Isolation, die eigentlich ihrem Schutz dient. So auch in Pflege und Seniorenheimen. "Zeitgleich gibt es auch einen auf den ersten Blick paradox wirkenden Effekt im Hinblick auf die vermeintlich immer gültige Trias 'Corona, Alter und Einsamkeit'", erklärt Hörmanseder. Es habe sich gezeigt, dass es durchaus alte Menschen gibt, die unter der Corona-Krise nicht so dramatisch leiden wie junge, so die Expertin. Der Grund dafür: Sie verfügen durch einschneidende Erlebnisse in der Vergangenheit über ein besonderes Maß an Resilienz. Denn man hat schon ganz andere Krisen wie Krieg, Flucht und Hunger oder persönliche Tiefschläge bewältigt – die den Umgang mit der Situation erleichtern.

Ältere Menschen verfügen im Regelfall aber ganz allgemein auch über weniger Sozialkontakte als jüngere, diese sind in Krisensituationen dann aber oft tragfähiger. Somit kann es durchaus sein, dass sich junge und jüngere Menschen in noch stärkerem Ausmaß von den Auswirkungen der Pandemie betroffen fühlen als ältere oder alte Menschen.

Gestresste Jugend

Etwa ein Drittel der Jugendlichen, aber auch deren Eltern, zeigen während des Lockdowns einen deutlichen Anstieg von Stress. Bei Jugendlichen steht die Zunahme in direktem Zusammenhang mit der Dauer, die sie zu Hause verbracht haben – ob sie finanzielle Probleme hatten und ob sie in der Lage waren, die hochkommenden Gefühle wie Einsamkeit, Enttäuschung oder Wut für sich selbst zu regulieren.

Besonders betroffen sind Jugendliche, weil bei ihnen Angst, weniger soziale Kontakte und Verlust der Tagesstruktur in eine Zeit der massiven neurobiologischen und psychologischen Veränderungen fallen. Wie stark sich die negativen Auswirkungen dieses Stresses, egal ob durch schwierige finanzielle Rahmenbedingungen oder Einsamkeit bedingt, manifestieren, hänge vom Alter der Jugendlichen und der Dauer der Problematik ab, erklärt Klug.

Innerhalb der Elternschaft treffe es dann in den Städten vor allem die Frauen mit finanziellen Problemen, mit gestressten Kindern und mit der "Unfähigkeit, massiv ausgedrückte Gefühle richtig und nicht persönlich interpretieren zu können", heißt es. "Es zeigt sich also, dass viele Menschen, auch solche ohne eine bereits bestehende psychische Problematik, mit der Situation in der Pandemie nicht gut zurechtgekommen sind", resümiert Klug.

Der Körper reagiert

Die Corona-Pandemie stellt eine komplexe Belastungssituation dar. Sie geht an kaum jemandem spurlos vorüber. Nach neun Monaten Pandemie seien wir inzwischen alle – egal ob psychisch krank oder gesund – mehr oder weniger "gezeichnet", sagt der Experte. Denn die Hoffnung auf ein rasches Ende habe sich nicht bewahrheitet. "Der zweite Lockdown fällt uns aufgrund von Erschöpfung und Enttäuschung viel schwerer als der erste, unsere Widerstandskraft sinkt."

Klug betont deshalb die Gefahr, die von Einsamkeit ausgeht: "Die derzeitigen sozialen und demografischen Trends tragen dazu bei, dass die Zahl der Menschen mit erhöhtem Einsamkeitsrisiko steigt", sagt er. Sozial isolierte Menschen hätten ein zwei- bis dreifach höheres Risiko, in einem bestimmten Zeitraum zu sterben. "Soziale Desintegration stellt für die Verkürzung der Lebenszeit ein höheres Risiko dar als Übergewicht, hoher Blutdruck oder Rauchen", erklärt er eindringlich.

Bei einer solchermaßen geschwächte psychische Abwehrkraft ist man dann natürlich noch leichter überfordert. Zuallererst kommt es zu einer Verstärkung bereits bestehender Themen. In der Folge kommen noch Ängste, Unruhe und stressbedingte psychische Probleme bis hin zur Suizidalität hinzu. Gleichzeitig sind die Krankenhäuser Pandemie-bedingt schwerer zu erreichen, und der ambulante Sektor, die niedergelassenen Berufsgruppen und psychosozialen Dienste sind durch die Vorsichtsmaßnahmen behindert und daher überfordert. Dem Psychiater und Psychologen zufolge sei das "eine fatale Kombination".

Marathon für die Psyche

Je länger dieser Zustand andauert, desto schwieriger wird es für alle, stabil zu bleiben. Besonders kritisch ist die Tatsache, dass die Folgen einer solchen Belastung oft nicht gleich zum Vorschein kommen, sondern erst nach Wochen oder Monate sichtbar werden. Daher ist es von großer Wichtigkeit, dass Menschen, die an psychischen Problemen gelitten haben, weiterhin Hilfe und Unterstützung finden.

Überhaupt habe man in Österreich noch viele Baustellen in der psychosozialen Versorgung, erklärt der Experte. Aufgrund der über die nächsten Jahre hinweg zu erwartenden Zunahme an Betroffenen müsse man diesen Bereich dringend stärken. Klug: "Wenn die Corona-Pandemie vorbei ist, ist mit massiven Sparpaketen zu rechnen. Es ist von größter Wichtigkeit, darauf zu achten, dass der psychosoziale Bereich bei diesen Sparpaketen nicht unter die Räder kommt." (Julia Palmai, 24.12.2020)