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Schöner Schmökern mit Stöbe: Schon im Prolog, in dem wir eine Sitzung des Pekinger Volkskongresses aus der Sicht eines unbedeutenden kleinen Delegierten erleben, dämmerte mir, dass ich Norbert Stöbes jüngsten Roman gerne lesen würde. Obwohl/weil sich ebenso früh abzeichnete, dass "Kleiner Drache" nicht der Thriller werden würde, den der Klappentext andeutet. Viel eher dient dieser Thriller-Plot als Pfad, von dem aus sich dann ein Tableau nach dem anderen entfaltet. Und in Summe eines jener Zukunftspanoramen ergibt, wie sie Ian McDonald, Paolo Bacigalupi oder der ältere David Brin mit großer Meisterschaft entworfen haben.

Unverhoffter Karriereknick

Die Figur, die alles zusammenhält, heißt Wei Xialong und ist leitende Angestellte eines Roboter-Herstellers in Peking. Da ihre Mutter die Eigentümerin des Konzerns ist, rechnet Xialong fest damit, in absehbarer Zukunft selbst die Führung zu übernehmen. Doch dann geht es Schlag auf Schlag. Erst verschwindet nur ein wichtiger Termin aus ihrem Kalender und wichtige Ansprechpartner sind plötzlich nicht mehr für sie erreichbar. Kurz danach wird auch schon ein Mordanschlag mit einer als Motte getarnten Drohne auf sie verübt, und Xialong muss feststellen, dass ein Haftbefehl gegen sie vorliegt. Als sie auch noch miterleben muss, dass offensichtlich ein Klon von ihr ihre Rolle eingenommen hat, bleibt ihr nichts anderes mehr übrig, als aus Peking zu fliehen.

Sozial geht es für Xialong nun steil bergab, geografisch in immer weitere Fernen. Sie kommt zur neuen Großen Mauer, deren Errichtung auf dem Volkskongress des Prologs beschlossen wurde, und weiter ins Ausland, wo sie in Sklaverei gerät. Nach einem längeren – und faszinierenden – Zwischenspiel in Bangladesch kehrt sie im dritten Teil des Romans schließlich nach China zurück und beginnt Pläne zur Beseitigung ihrer Klonschwester zu schmieden. So kurz und einfach lässt sich die Handlung von "Kleiner Drache" zusammenfassen. Aber der Plot ist wie gesagt nicht der einzige Aspekt, und auch nicht unbedingt der wichtigste.

Das Reich der fehlenden Mitte

In einer Art futuristischem Realismus à la Paolo Bacigalupi gestaltet Stöbe seinen Roman als Zug durch die Milieus. Das beginnt schon in Peking, wo das glitzernde neue China das traditionelle gnadenlos verdrängt hat. Alte Stadtviertel wurden mitsamt den darin gewachsenen Gemeinschaften zertrümmert, die Menschen in anonyme Wohnsilos übersiedelt. Räumlich nah und doch streng von ihnen getrennt liegen die Wohntürme der Oberschicht. Buchstäblich unerreichbar für die Normalbevölkerung ist jene aus dem Meer ragende Luxushotelanlage, die wir dann in Teil 3 kennenlernen werden.

Auf ihrer Flucht muss Xialong aber erkennen, dass sie bislang in einer Blase gelebt hat. Draußen auf dem Land ist China bei weitem nicht das Techno-Utopia, das die Regierung – immer noch ein autoritäres Überwachungssystem – ihren Bürgern in den Städten vorgaukelt. Und die Verhältnisse werden rauer, je näher Xialong der Grenze kommt, wo sich Flüchtlinge aus dem ganzen Land zusammenrotten. Die neue Große Mauer richtet sich nicht nach außen, sondern nach innen.

Der Höhe- ist ein Tiefpunkt

Den vielleicht spannendsten Schauplatz liefert aber Teil 2 des Romans, in Bangladesch: Eine heruntergekommene Werft, in der Zwangsarbeiter abgewrackte Schiffe verschrotten, liegt hier nicht allzu weit entfernt von Anlagen für die Raumfahrt. Und dazwischen befindet sich mit dem Space Market ein wimmelndes halblegales Biotop, in dem die jüngsten technologischen und pharmazeutischen Errungenschaften der Mondkolonie angeboten werden.

Der Abschnitt, in dem wir uns durch diesen Sumpf von Knochenarbeit, Verbrechen und Prostitution bewegen, ist für mich das Highlight von "Kleiner Drache". Nicht zuletzt auch deshalb, weil er der in sich geschlossenste und stringenteste Teil des Romans ist. Er beginnt damit, wie Xialong als Sklavin auf dem Tiefpunkt ihres Lebens angekommen ist und sich dann mit eiserner Konsequenz nach oben kämpft. Das ist in sich so rund und hat so vergleichsweise wenig mit dem Rest des Romans zu tun, dass man ein bisschen den Eindruck gewinnt, Teil 2 wäre ursprünglich eine eigenständige Novelle gewesen.

Mäandernder Strom

Nicht umsonst habe ich zu Beginn von Schmökern geschrieben. Man sollte besser nicht allzu zielorientiert denken, sondern sich einfach von der Erzählung mittragen lassen. Denn die Handlung mäandert nicht nur geografisch, Stöbe schweift zwischendurch auch öfter mal zu Nebenfiguren ab und rückt deren Perspektive in den Mittelpunkt. Immer nur kurzfristig freilich, da fast alle schon bald wieder aus Xialongs Leben verschwinden.

Die einzige dauerhafte Begleiterin wird ausgerechnet Litse bleiben: ein weiblicher Sexroboter, den Xialong bei ihrer Flucht aus dem Firmengebäude spontan entführt und auf weitgehende Autonomie umprogrammiert. Sie tut es angeblich, weil ihr bewusst wurde, dass sie ihr ganzes Leben der Arbeit gewidmet und deshalb keinen einzigen Freund hat. Etwas willkürlich wirkt diese Wendung dennoch; aber immerhin hat Xialong auf ihrem Trek damit eine Gefährtin mit nicht-menschlichen Kräften zur Seite, das kann schon mal praktisch sein.

Offene Fragen hinterlässt auch so manches Motiv, das zwar mehrfach im Roman auftaucht, aber letztlich doch nicht vollständig ausgearbeitet wird: etwa australische Klimaflüchtlinge, die neue E-Religion der Drei Wahrheiten oder eine Widerstandsbewegung, die aus der Protetaktion eines tibetischen Mönchs erwächst. Man gewinnt den Eindruck einer Welt, in die man jederzeit noch tiefer eintauchen und dabei immer neue Facetten entdecken könnte. Aber was Eindrücke anbelangt, ist das ja nicht der schlechteste. Und alleine schon für den Mittelteil ist "Kleiner Drache" sowieso lesenswert.