Besondere Maßnahmen im besonderen Jahr für den Titanen.

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BEETHOVEN-ASKESE

Wäre Beethoven noch am Leben, er würde es bedauern, tot zu sein. Den komponierenden Widerspruchsgeist aus Bonn hätte es gewiss erheitert, zu erleben, wie das verordnete Jubeljahr zu seinem 250. Geburtstag gewissermaßen im Tsunami der Ereignislosigkeit untergeht. Im vollen Bewusstsein, dass jedes Jahr nämlich sein Beethoven-Jahr ist, so wie jedes auch ein Mozart-Jahr ist, würde Ludwig van die Corona-bedingte Tiefkühlung seines Werkkanons als so ironische wie sinnvolle Volte des Schicksals werten.

Für Zeitgenossen (wie unsereins) führt diese Beethoven-Diät konkret zu einer unerwarteten Erkenntnis. Es stellt sich das überraschende Gefühl ein, seine strukturverliebten Klänge zu vermissen. Bewegte sich das Ohr früher mitunter an der Grenze der Übersättigung, trat seit März immer stärker die Sehnsucht in den Vordergrund, wieder einmal etwa die eröffnenden Fluten der neunten Symphonie hören zu dürfen. Das ist eine überraschende Erkenntnis.

Und da es klanglich nichts zu konsumieren gab und gibt, ist natürlich als kompensatorische, die Musik ersetzende Maßnahme der Lektüre angesagt gewesen. Dabei erwies sich ein Blick in die Briefe des Giganten als erhellend im Sinne einer Auffrischung von Wissen. Ja, der gemeinhin grimmig Dargestellte war ein echter Mensch. Er konnte seinen hehren Humanismus im Alltag nicht immer ausleben ...

Da sind zum einen schöne Worte eines erträumten Idealismus: "Betrachten Sie mich als liebenden Menschenfreund, der nur Gutes will, wo es möglich ist", schreibt Beethoven und muss doch auch anders: "Schreib-Sudler! Korrigieren Sie Ihre Fehler! Das schickt sich besser, als mich belehren zu wollen! Denn das ist gerade, als wenn die Sau die Minerva lehren wollte!", schenkt er einem schlampigen Notenkopisten ein. Das sind für den Schöpfer der brüderlichen Europahymne harte Worte. Ein Genie, das im Alltag scheitert? Ist natürlich keine große Erkenntnis. Vielleicht kommt sie aber noch. Im ORF naht (23. Dezember) der Film Louis van Beethoven, dessen Fotos schon einiges versprechen. Tobias Moretti sieht (als Beethoven) aus wie Karl-Heinz Grasser mit wilder Titanenperücke. (Ljubiša Tošić)


WIDERSPENSTIGER FIDELIO

Das Beethoven-Jahr 2020 brachte etwas, das man in einem Beethoven-Jahr am allerwenigsten erwartet hätte: Stille. Die monatelangen Generalpausen im Konzert- und Opernbetrieb haben zwar sicher ein paar Erkenntnisse begraben, die zu erlangen gewesen wären. Dennoch schuf die Stille einen informativen Resonanzraum für die Jubelchöre, die schon im letzten Drittel von 2019 angehoben hatten.

Im Prunksaal der Nationalbibliothek konnte man den Wiener Werdegang des gebürtigen Bonners in einem gemächlichen Schaukastenspaziergang nachverfolgen. Neben zahlreichen zeitgeschichtlichen Informationen zu seinen dreieinhalb Wiener Lebensjahrzehnten blieb als ein Detail Beethovens traute Verbindung zu einem Juristen der ungarischen Hofkanzlei in Wien erfrischend im Gedächtnis. Nikolaus Paul Zmeskáll Edler von Domanovecz und Lestine, von Beethoven als "liebes altes Musikgräferl" tituliert, half dem leicht entflammbaren Genie bei der Bewältigung seiner Alltagsprobleme. Womöglich wäre der Werkkatalog Beethovens schmäler ausgefallen ohne Zmeskálls recht segensreiches Wirken.

Anhand Beethovens Schmerzenskind auf dem Gebiet der Oper konnte die Einsicht untermauert werden, dass der Komponist bei Fidelio nicht endlos viel Freiraum für Interpretationen bietet. Amélie Niermeyer verlegte an der Wiener Staatsoper denUr-Fidelio in eine Bahnhofshalle und ließ die verdoppelte Leonore ein Zwiegespräch mit sich selbst führen. Christoph Waltz’ Deutung der Zweitfassung des Werks im Theater an der Wien reüssierte dann nur noch konventionell im TV.

Düster auf der Bühne

In Linz wiederum schminkte man selbige Spieloper gesamthaft auf grau-schwarze Apokalypse um. Umso schöner, dass Musikchef Markus Poschner Beethovens Kunstwerk mit unerhört viel Menschlichkeit erfüllte. Aus den szenischen Umsetzungen erfuhr man also letztlich nur eine altbekannte Weisheit: Der Fidelio verhält sich auf der Bühne so widerspenstig wie dessen Schöpfer fallweise seiner Umwelt gegenüber. Nach der ersten Lockdown-Stille erklang dann allerhand aufgestauter Beethoven. Philippe Jordan versuchte mit den Symphonikern im Musikverein vergeblich, an alte Interpretationsintensitäten anzuschließen. Julian Rachlin geigte im Konzerthaus auf souveräne Weise mit den Violinsonaten auf, und auch Rudolf Buchbinder war natürlich sofort mit Beethoven zur Stelle. Vertrautes quasi von vertrauten Namen.

Auf Paulus Mankers Ein-Personen-Stück Ludwig – ein Grant bis ans Ende wartete man im Beethovenjahr leider vergeblich. Schade! Der streitbare Theatermann, der sich in Talkshows gern in einem Zustand der permanenten Präexplosivität präsentiert, hätte die vulkanischen Emotionseruptionen des Geburtstagskinds mit Sicherheit so glaubhaft wie lustvoll zu verkörpern gewusst. Und womöglich völlig neue Ludwig-van-Einsichten vermittelt. (Stefan Ender)


BEETHOVEN UND KANT

Man spürt das Denken bei jedem Ton: die gewaltige Anstrengung, aus der schlussendlich oftmals eine verblüffende Leichtigkeit resultiert. Beethovens Werk ist eine Lebensaufgabe für jede ernsthafte Auseinandersetzung. Auf Schritt und Tritt bieten auch die oftmals erlebten Stücke immer wieder Überraschendes, Radikales, Neues.

Dennoch: Kann es im Umfeld des pandemischen Jubiläumsjahres überhaupt noch Anhaltspunkte für eine Neubewertung im Ganzen geben? Durchaus. Immer schon war bekannt, dass dem Komponisten die zentralen geistigen Strömungen seiner Zeit keineswegs gleichgültig waren. Beethovens Schaffen steht für eine Mission, die zwar selten so überdeutlich zum Ausdruck kommt wie in der neunten Symphonie. Sie lässt sich aber überall erahnen und kreist um die Brüderlichkeit des ganzen Menschengeschlechts.

Vertieft man sich anlassgebunden in Beethovens Vita, wird zudem auch wieder deutlich: Der Wille zum selbstbestimmten und verantwortungsvollen Handeln, die Sehnsucht nach einem geglückten Leben – biografisch in geradezu tragischer Weise durchlitten – sind Konstanten, die sein gesamtes Œuvre bestimmten. Wichtig waren für Beethoven aber zugleich auch die wichtigen Tendenzen seiner Zeit.

Kants Epochengedanken

Niemand – zumal im deutschsprachigen Raum – hat die Gedanken seiner Epoche wirkmächtiger formuliert als Immanuel Kant. Einen Zusammenhang mit Beethoven zu erkennen ist dabei ebenso naheliegend wie herausfordern – nämlich dann, wenn es konkreter wird. Man mag sich den von seinem eigenen Werk besessenen Komponisten kaum als beharrlichen Leser der schwierigen Schriften des Philosophen vorstellen. Die Belege für eine direkte Auseinandersetzung sind denn auch spärlich.

Dass es ihrer womöglich gar nicht unbedingt bedarf, legt ein anlässlich des Beethoven-Jahres erschienenes Buch des Musikwissenschafters Hans-Joachim Hinrichsen nahe: Musik für eine neue Zeit (Metzler-Verlag, Stuttgart/Weimar, und Bärenreiter-Verlag, Kassel). So schlagkräftig wie der Titel ist die Argumentation, man müsse als Zeitgenosse um 1800 Kant gar nicht unbedingt im Original gelesen haben, um sich doch mit seinem Denken auseinanderzusetzen. Kein Geringerer als Meister Goethe dient dem Autor als Gewährsmann für diese Beobachtung.

Bezeichnenderweise stammt das häufig zitierte, für Beethovens künstlerisches Credo so bedeutsame Kant-Zitat "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir" wohl aus einer Wiener Zeitschrift. Hinrichsens hoch konzentriertes Buch vermittelt scheinbar mühelos zwischen biografischen Details, weltanschaulichen Fragen und bestechenden Analysen des Notentexts. Unter den vielen Neuerscheinungen im Zusammenhang mit dem Jubiläum ist es vielleicht die wichtigste, da sie die Konzertstille immerhin mit ein paar Erkenntnissen bricht. (Daniel Ender, 17.12.2020)