Wissenschafter befürchten, dass Politiker die Zeit nach einem Terroranschlag nutzen, um Dinge durchzusetzen, die sonst nicht umsetzbar wären.

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Nach dem Anschlag vom 2. November in Wien geht es um viel. Staatschefs und Minister im In- und Ausland sprachen von den "österreichischen demokratischen Werten", dem "Herz unserer Gesellschaft", "unserem Europa" und nicht zuletzt vom "Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei". Terroranschläge hören nicht auf, sobald der Täter ausgeschaltet, die Opfer identifiziert und Schäden am Tatort wiederhergestellt sind. Sie wirken nach: in den Köpfen der Menschen, im Stadtbild und auch auf politischer Ebene.

Am Mittwoch preschte die Regierung vor und brachte zahlreiche Gesetzesverschärfungen im Kampf gegen den Terror auf den Weg. Dieses Muster kennt der Experte Franz Eder von der Universität Innsbruck aus seiner Forschung: "Das Gelegenheitsfenster nach einem Attentat nutzen Politiker, um umzusetzen, was sonst nicht durchsetzbar wäre", sagt Eder. Das passiere in vielen Ländern, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung.

Sonderform Kommission

Aus anderen Ländern wissen wir aber auch, dass die Terroraufarbeitung eine langwierige Angelegenheit ist. Am Anfang steht die Medienberichterstattung: Diese sei sehr täterfokussiert, sagt Stefan Malthaner vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Später kommen Gerichtsprozesse, in denen die Frage nach Schuld und Unschuld im Mittelpunkt steht, und möglicherweise auch Untersuchungsausschüsse, die auf das Handeln der Behörden abzielen. So versuchen noch heute Parlamentarier in Deutschland, Widersprüche rund um das Attentat am Breitscheidplatz 2016 zu klären.

Eine Sonderform der Aufarbeitung sind Kommissionen. Sie untersuchen meist nicht nur die Tat, sondern fragen nach den weitgehenden Ursachen und den institutionellen Folgen: Wo haben Politik und Behörden auch in der Prävention versagt? Etwa in Neuseeland: Nach dem rechtsextremen Christchurch-Attentat erarbeitete eine Kommission einen 800 Seiten langen Bericht, der erst Anfang Dezember veröffentlicht wurde. In diesem wurde detailliert beschrieben, wie sich der Attentäter radikalisieren konnte, welche Verbindungen er zu Rechtsextremen hatte und warum die Behörden rechtsextremen Terror zu wenig beachtet hatten. Ähnlich wie in Österreich befanden sich die Geheimdienste in einer Art Reformphase und in einem lähmenden, "fragilen Status", so der Bericht.

"Heilende Funktion"

Doch nicht nur das: Der Bericht widmet sich auch der Frage, wie Hass in der Gesellschaft entstehen und Diversität gelebt werden kann. Außerdem ist er direkt den Opfern des Attentats gewidmet, vorab durften sie den Bericht einsehen, und jeder konnte sich mit Einsendungen an die Kommission wenden. Experte Malthaner sieht darin eine "heilende Funktion". Kommissionen würden vielerorts auch die Aufgabe einer "symbolischen Aufarbeitung" des Terrors übernehmen.

Ähnlich in den USA: Die meisten Befragungen der Kommission zum Anschlag vom 11. September 2001 in New York wurden öffentlich übertragen, die Opferfamilien waren im medialen Diskurs sehr präsent. So nahm die Bevölkerung an der Aufarbeitung teil und hatte das Gefühl zu wissen, was passiert ist, sagt der Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King's College.

Knapper Zeitplan

Hierzulande dürfte die Aufarbeitung etwas engmaschiger ausfallen. Innerhalb von vier Wochen soll die von Türkis-Grün eingesetzte Kommission aufklären, ob die Behörden im Vorfeld des Attentats Fehler gemacht haben. Ein erster Bericht soll noch vor Weihnachten intern vorliegen. Laut Regierungsbeschluss erhält die Kommission zwar Zugang zu allen Akten, die Befragten sind allerdings nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.

Die Opposition sah sich wegen des straffen Zeitplans und ihrer fehlenden Einbindung schon im Vorfeld bestätigt: Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wolle sich einen "Persilschein" ausstellen lassen, glaubt die SPÖ. Die Neos bezweifeln in einer parlamentarischen Anfrage die Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder.

Dass die Regierung einer Kommission Grenzen setzt, sei durchaus üblich, sagt Neumann. In Neuseeland war dies kaum der Fall, deshalb werden im Bericht auch Fragen von Hass im Netz oder der Umgang mit Diversität behandelt. Für Neumann läuft man aber so Gefahr, eine Art "Politik-Ersatz" zu installieren. Für Fragen, wie eine Gesellschaft zusammenleben möchte, gebe es immer noch das Parlament. Bewährt habe sich ein Mittelweg zwischen dem Fokus auf die eigentliche Tat und einer breitgefächerten Aufarbeitung des Terrors.

Blick über Tellerrand

Auch Malthaner pocht auf eine tiefgehende Bearbeitung der Geschehnisse um nicht "aus einem Reflex" voreilige Schlüsse zu ziehen. Die Forschung zeige, dass behördliches Lernen Zeit und einen konstruktiven Dialog brauche. Neumann erwarte sich von einer Kommission auch den Blick über den Tellerrand: Was kann aus anderen Ländern gelernt werden? Der österreichische Umgang mit Experten im Sicherheitsbereich sei im internationalen Vergleich "wahnsinnig schlecht", konstatiert der Innsbrucker Forscher Eder. In den Niederlanden etwa wurde ein eigener Koordinator zur Terrorismusbekämpfung geschaffen, der Wissenschafter in die behördliche Berichterstattung einbindet und vorab brieft.

Die Kommission zum Wiener Attentat gibt sich gegenüber Medien zugeknöpft. Das Innenministerium verweist darauf, dass man erstmal "einen Schritt nach dem anderen" gehe. Was jedoch fix ist: Das erste Antiterrorpaket wird Anfang des neuen Jahres vom Nationalrat abgesegnet und ein zweites, viel weitreichenderes wird folgen. (Laurin Lorenz, 17.12.2020)