Die beiden Rap-Superstars Cardi B. und Megan Thee Stallion mit dem möglichweise besten, auf jeden Fall meistumstrittenen Song des Jahres: "WAP".

Foto: Atlantic
Empfehlungen von Karl Fluch

Album: Sault – Black Is & Rise

Vier Alben, zwei davon doppelte, hat diese britische Band seit 2019 veröffentlicht. Die Mischung aus Afrobeat, Soul, Gospel und urbanem Funk erfährt durch die mysteriöse Anonymität ihre Schöpfer eine Aura, die von politischen Positionen noch verstärkt wird. Bei aller Lässigkeit verströmen Sault eine melancholische Urgenz, der man sich nur schwer entziehen kann. Welches der beiden Alben man nehmen soll? Alle vier.

Sault - Topic

Song: Moodymann – Do Wrong

Der Deep-House-Gott Kenny Dixon Jr. sampelt auf seinem Album Taken Away Al Green und diverse Gospelschnipsel zu der brutal infizierenden Halleluja-Wumme Do Wrong zusammen. Selbst tausendfach in ihrer Wirkung bestätigten Orgel-Stößen und Ekstaselauten aus schwarzen Kirchen, kann Dixon alias Moodymann mittels feinfühlig kuratierter Soundschnipselei Mehrwert verleihen. Das Resultat ist tatsächlich göttlich.

soundsgroovy

Newcomer: Gebenedeit – Missgeburt. Macht eine Messe

Geile Züchtigungsmusik aus dem katholischen Internat, die sich in Exorzismus und Gegenexorzismus aufschaukelt und sich mit dünner Stimme weltekelige Beschwerdelieder wie Falsche Sau oder Missgeburt entsteißt. Dazu liefert das von der Autorin Lydia Haider angeführte Trio mit Die Viren sollen krepieren den Feel-good-Hit zur Zeit. Scheitelknien und Stromstöße als Musik – die beste heimische Band obendrauf. Absolution? Verdammnis.

ProblembaerRecords

Überraschung: Prince – Sign o' the Times Deluxe Box

Eigentlich ist 1987 vorbei. Doch die auf schlanke 13 LPs angelegte Deluxe-Wiederveröffentlichung dieses Meilensteins hört sich an wie das unbekannte Gesamtwerk eines eben erst entdeckten Genies. Die Leib-, Unterleib- und Lebensthemen des Prinzen – Sex, Sex und Liebemachen – lässt der 2016 unbotmäßig früh Abberufene in einem Artenreichtum explodieren, der das Kamasutra fantasiearm und zölibatär erscheinen lässt.

Prince - Topic
Empfehlungen von Christian Schachinger

Album: William Basinski – Lamentations

Mit The Disintrigation Loops lieferte er 2001 den Soundtrack zu 9/11. Mit Lamentations und seiner in einer Kirche der letzten Tage dröhnenden und tausend Tränen tief in Melancholie und Trauer angesiedelten orchestralen Tonbandschleifen- und Ambientmusik trifft der US-Musiker heuer wieder ins Schwarze. Die Tonbänder fangen langsam zu knistern und zu zerfallen an. Die Welt ist müde. Sie muss jetzt ohne Menschen auskommen.

Temporary Residence Ltd

Song: Skyway Man – Night Walking, Alone

Für einsame nächtliche Spaziergänge durch menschenleere Straßen kann es heuer nur diesen Song geben: "Turn on the radio and fade away". Der wunderbare kalifornische Skyway Man bietet auf seinem Album The World Only Ends When You Die zu Herzen gehenden, verstrahlten Gospel und Country. John Lennon und Boney M., interpretiert aus der Perspektive von Alice im Wunderland. Und er spendet uns Trost: "Sha la la la".

Mama Bird Recording Co.

Newcomer: Backxwash – Stigmata

Der afrokanadische Transfemme-Rapper Backxwash (das x steht für ein auf dem Kopf stehendes Christenkreuz) treibt auf seinen Arbeiten Stigmata und God Has Nothing To Do With This Leave Him Out dem Christentum den Teufel aus. Kolonialismus-Exorzismus inklusive. Wir hören Heavy-Metal-Samples aus dem Höllenschlund, brutale Hip-Hop-Beats und von schwarzer Magie getränkte Texte. Atemberaubend und fordernd.

BACKXWASH

Überraschung: Ennio Morricone – Morricone Segreto

Abseits der bekannten Klassiker lebte der heuer verstorbene Großmeister der Filmmusik seine Liebe zu experimentellen Klängen recht hemmungslos aus. Diese fantastische neue Kompilation mit teilweise bis dato unveröffentlichten Stücken schickt uns auf eine Achterbahnfahrt zwischen Cool Jazz, spinnertem Psychedelic Rock, haarsträubenden Pizzicato-Attacken, Liebesleid mit Sirenenprobe und süßlichem Todeskitsch.

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Ennio Morricone - Topic
Empfehlungen von Amira Ben Saoud

Album: Dua Lipa – Future Nostalgia

Was Mainstream-Pop betrifft, konnte ihr heuer niemand das Wasser reichen. Dua Lipa, die britische Aufsteigerin mit kosovarischen Wurzeln, machte die Lockdown-Wohnung zur 80er-Disco und Couch-Potatoes zu Tänzern. Sie schaffte es, uns dem Alltag zu entreißen und uns für die Dauer ihres Albums an einen glitzernden "happy place" zu beamen. Future Nostalgia klingt sexy, fröhlich und trotz Retroschlagseite frisch.

Dua Lipa

Song: Cardi B. / Megan Thee Stallion – WAP

Die Nummer des Jahres muss eine sein, an der es kein Vorbeikommen gab, die einen im (!) Schritt und Tritt verfolgte, die das Internet flutete. Yeah, "I’m talking WAP, WAP, WAP". Die Ode der beiden Rap-Superstars Cardi B. und Megan Thee Stallion auf eine gewisse, na ja, Körpersaftbar zeichnete sich nicht nur durch Eingängigkeit und memorable Einzeiler ("Bring a bucket and a mop") aus, sondern war ein obszön-lustiges Politikum.

Cardi B

Newcomer: Helena Deland – Someone New

Mit einem Glas Wein in die Badewanne sitzen, traurig sein und nicht wissen, warum. Dafür eignet sich das erste Album der Kanadierin Helena Deland über die Liebe. Melancholisch, entrisch, zart und dunkel klingt es und kommt irgendwo zwischen Shoe Gaze und sanftem Indie-Rock zu liegen. Wer Phoebe Bridgers und Weyes Blood mag oder generell ein gitarrenaffines Kind von Traurigkeit ist, wird auch Frau Deland gut leiden können.

Helena Deland

Überraschung: Sault – Black Is & Rise

Dass Sault gute Musik machen, ist nicht die große Überraschung. Dass das britische Soul-Kollektiv mit Untitled (Black Is) und Untitled (Rise) 2020 gleich zwei phänomenale Alben vorlegte, darf aber als solche gelten. Auch wenn der Anlass für so viel Produktivität, die Ermordung George Floyds, die Polizeigewalt gegen Schwarze und deren Kampf für Gerechtigkeit, ein bitterer ist. Dringlichere Alben hat man 2020 nicht gehört.

Sault - Topic
Empfehlungen von Ronald Pohl

Album: M. Halvorson‘s Code Girl – Artlessly Falling

Da ist sie wieder: die brüchig intonierende Stimme von Robert Wyatt (75) – immer noch die zarteste Versuchung, seit es Popmusik gibt, die sich von Karl Marx inspirieren lässt. Auch sonst macht das Jazz-Sextett rund um Gitarristin Mary Halvorson aus Boston alles richtig: Es werden Gedichte vertont, aber ohne lästige Liedstruktur. Halvorson versteht sich auf Tonketten in wechselnden Lagen à la Robert Fripp. Prog ohne Nerd-Faktor.

Mary Halvorson - Topic

Song: Cinder Well – Our Lady's

Die Akustikgitarre scheppert und ächzt wie ein verdurstendes Tier: Amelia Baker lebt im irischen County Clare. Unter dem Namen "Cinder Well" nimmt sie den herzzerreißendsten Folk dieser Tage auf. Der Neunminüter "Our Lady's" bildet das pulsierende Zentrum des Albums "No Summer". Besungen werden Insassen einer aufgelassenen Nervenheilanstalt irgendwo in der Wildnis. Hier wird das Böse mit Engelsgeduld ausgetrieben.

Free Dirt Records

Newcomer: Sorry 3000 – Nasenspray

Mit der elenden Pandemie wird sogar jede Rezeptpflicht hinfällig. Sorry 3000, Trainingsjackenträger aus Halle an der Saale, geißeln in "Nasenspray" mit eindringlich mahnenden Worten den Ephedrin-Rausch aus dem Kunststofffläschchen. Ihr Debütalbum heißt übrigens "Warum Overthinking dich zerstört". Sorry 3000 besingen das Drama des empfindsamen Kindes: Soziologensprech, auf quietschbunten "Loserpop" gebettet.

Audiolith

Überraschung: The Monochrome Set – Love Zombies

42 Jahre herrlichster britischer Independent-Pop ohne Auftrag Ihrer Majestät: Die Band um den textenden Dandy Bid errichtete ab den 1970ern, als kurzfristig (beinahe) alles möglich schien, kleine Kunstwerke. Die bestanden aus Swing und Art-Pop, aus Morricone, Music-Hall und Monty Python. Bid rezitierte dazu hinreißende Nonsensverse. Insbesondere das wiederveröffentlichte Album "Love Zombies" ist völlig unverzichtbar

Babba Zee
Empfehlungen von Ljubiša Tošić

Album: Rudolf Buchbinder – The Diabelli Project

Eine vortreffliche Idee, aus dem Beethoven-Jahr (sein 250er ...) auch etwas mit und für Zeitgenossen zu erschaffen: Pianist Rudolf Buchbinder hat nicht einfach souverän Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen eingespielt (DG). Es wurden auch elf neue Stücke in Auftrag gegeben, die sich mit Diabellis Walzer befassen. Mitgemacht haben u. a. Lara Auerbach, Meister Hosokawa, Johannes Maria Staud, Max Richter und Jörg Widmann.

Rudolf Buchbinder - Topic

Song: Diana Krall – Don’t Smoke In Bed

Ein guter Rat in diesen allzu häuslichen Zeiten: "Don’t smoke in bed", singt die Kanadierin Diana Krall auf ihrer neuen Einspielung This Dream of You. Sie klingt rauchig, verschlafen, scheint sich also in jenem Zustand zu befinden, in dem man vorsichtig mit Feuer umgehen sollte. Für die Interpretation von Jazzballaden allerdings ist diese Verfassung ideal. Krall trifft mit Understatement den richtigen Ton, und das Lied mitten ins Herz.

Trendy Lyrics

Newcomerin: Nubya Garcia – Source

Die britische Jazzszene ist schwer angesagt, dabei auch Tenorsaxofonistin Nubya Garcia. Zu Recht. Auf ihrer neuen CD Source präsentiert sie sich mit strahlendem Sonnenton und einem gelassenen Umgang mit der Zeit. Ihr Stil lebt von einer "Laid back"-Haltung, Garcia bleibt locker, lässt Töne ausgiebig atmen und bevorzugt große Intervalle. Alles zusammen ergibt einen interessanten Personalstil. Und den braucht es im Jazz.

ArmaniS ArsacaS

Überraschung: Ambrose Akinmusire – On The Tender Spot

Ambrose Akinmusire widmet sich den komplexen und tragischen Seiten afroamerikanischen Lebens in den USA. Auf der aktuellen CD des Trompeters, On the tender spot of every calloused moment (Blue Note), verschmilzt Engagement mit instrumentaler Qualität (zwischen hartem Free Jazz und schnittigem Post-Bebop). Es wurde das überraschend starke Dokument einer musikalisch hochkarätigen melancholische Klage über die traurigen Verhältnisse.

Blue Note Records

(18.12.2020)