Rehe, Schlangen, Biber: Im Wiener Prater leben zahlreiche Wildtiere – unter citizen-science.at versuchen Wissenschafter, das Verhalten der Tiere im urbanen Raum mithilfe interessierter Laien zu erforschen.

Foto: Popp-Hackner Photography/ Wiener Wildnis

Ich kann mich noch gut erinnern: Es war ein kalter Wintertag, als beim Spazierengehen in einer der hinteren Ecken des Praters plötzlich ein Rehkitz vor mir stand. Wir sind beide erschrocken. Um das Tier nicht weiter zu verstören, habe ich mich in Zeitlupe zurückgezogen. Schließlich leben die Tiere hier. Der Prater ist ihr Revier. Ich bin bloß Gast. Da ist Höflichkeit angebracht.

Seitdem halte ich die Augen offen, wenn ich im Sommer zum Stadionbad radle, weiß schon, wo Eichkätzchen leben, kenne bestimmte Krähen, die ich gern mit Nüssen füttere. Ich bin erstaunt, was es alles zu sehen und zu hören gibt. Welche Gewohnheiten Tiere haben, und wie sie uns genauso neugierig beobachten wie wir sie. Der Prater ist für mich nicht mehr nur ein Naherholungsgebiet, er ist ein Stück Wildnis, über das ich mehr wissen möchte.

Wiener Schwammerl.
Foto: Wiener Wildnis

Auf Instagram folge ich dem Hashtag #WienerWildnis, da sind großartige Tierfotografien aus dem urbanen Raum zu finden: Füchse, die vor dem Schloss Schönbrunn spazieren, Biber, die an Holzstämmen nagen, majestätische Eisvögel. Es kann eine richtige Sucht werden, wenn man einmal damit begonnen hat zu erforschen, mit wem man da eigentlich den Lebensraum teilt. Von der Ameise bis zum Specht – Tiere sind faszinierend. Je mehr man über sie weiß, desto mehr schätzt man sie. Und desto mehr möchte man über sie lernen.

Seltene Arten

Ich beschließe, einen Experten zu treffen, der mir die weniger bekannten Seiten des Praters näherbringen kann. Harald Gross kommt mit dem Fahrrad zum Treffpunkt am Ende der Prater Hauptallee. Gross ist "beamteter Naturschützer", wie er sagt, und arbeitet in der Umweltschutzabteilung der Stadt (MA 22). Er kennt den Prater wie seine Westentasche. Wir müssen nicht weit radeln, gleich hinter dem Lusthaus stehen die Reste einer alten Pappel. Totholz, wie der Fachausdruck lautet. Gross zeigt auf die riesigen Löcher im Holz, in denen die Larven des Körnerbock-Käfers oft über mehrere Jahre lagern, bis sie dann schlüpfen. Bis zu fünf Zentimeter können diese Käfer lang werden. "Ein Drittel von Wien steht unter Naturschutz", erzählt Gross. "Es geht darum, diesen Lebensraum zu erhalten." Viele Arten brauchen Totholz wie dieses, das es in Nutzwäldern nicht gibt.

Down under tummeln sich die Kaulquappen – Natur pur mitten in der Stadt.
Foto: Wiener Wildnis

Die Rehe im Prater sind übrigens aus dem Nationalpark Donau-Auen herübergeschwommen, erzählt Gross. "In mir schlagen zwei Herzen", gesteht Gross. "Man muss die Natur erleben können, aber man soll mit Bedacht vorgehen." Am Lusthauswasser zückt Gross sein Fernglas und hält Ausschau. Eine Mandarinente wäre toll. Die Erpel erkennt man an ihrem prächtigen, bunten Gefieder, die Weibchen sind verhältnismäßig unscheinbar, aber haben ein eigenwilliges Brutverhalten. Sie legen ihre Eier in Bäume, verlassene Vogelnester dienen ihnen als ungewöhnliche Brutstätten.

Enten auf Bäumen

Wenn man also Enten sieht, die auf Bäumen sitzen, dann spinnt man nicht. Im Web finden sich zig Videos, wie die Jungen von Mandarinenten schlüpfen. Sie sind Nestflüchter, erzählt Gross. Die Mutter lockt sie, vom Baum zu hüpfen. Sie können nicht fliegen, sie lassen sich fallen. "Sie fallen wie ein Federball aus bis zu zehn Meter Höhe", erzählt Gross, "und verletzen sich nicht." Wir haben zwar kein Glück, sehen aber Teichhühner im Lusthauswasser schwimmen. Viele Zugvögel, die früher in den Süden geflogen sind, überwintern mittlerweile in Wien, eine Auswirkung des Klimawandels. Manche sind Stammgäste, so gibt es im Stadtpark eine Möwe, die jedes Jahr aus Finnland herfliegt – beachtliche 1850 Kilometer Luftlinie.

Selbst Biber plantschen gemütlich im Stadtgebiet.
Foto: Wiener Wildnis

Gross erzählt von der Rotbauchunke, einer Feuerkröte, die herzförmige Pupillen hat. Und von der Würfelnatter, die im Wasser jagt. "Es gibt keine Giftschlangen in Wien", entwarnt er, "und auch keinen Tollwutfall bei Füchsen." Dann radeln wir weiter zum Krebsen- und Mauthnerwasser, dorthin, wo der Prater noch wie ein Dschungel aussieht.

Hier beginnt das uralte Augebiet. Umgefallene Baumriesen ragen dramatisch aus dem Wasser, Biber fühlen sich hier wohl. Und im Sommer sonnen sich die Sumpfschildkröten. "Die aufgeheizten Baumstämme sind ein Eldorado für seltene Käfer", sagt Gross. Ein faszinierender Urwald: Als wäre man weit weg von der Großstadt. Obwohl man mitten in Wien ist.

Rund sechs Kilometer umfasst der Prater. Namentlich erstmals erwähnt wurde er bereits 1162, als Kaiser Friedrich I. Barbarossa ein Grundstück zwischen der Schwechat und der Donau bei Mannswörth einem Adeligen namens Conrad de Prato schenkte. Die Familie de Prato nannte sich später Prater. Lange war dieses Gebiet ein unberührter Auwald, die heute noch bestehende Hauptallee wurde angelegt, um eine Direktverbindung vom kaiserlichen Palais im Augarten herzustellen. Für die Öffentlichkeit war der Prater damals gesperrt, der Monarch wollte in Ruhe seinem Lieblingshobby, der Jagd, frönen. Erst 1766 gab Kaiser Joseph II. den Prater zur allgemeinen Benutzung frei.

Citizen Science

Damals signalisierten drei Böllerschüsse abends, dass man den Prater verlassen musste. Diese Sperrstunde gibt es schon lange nicht mehr. Gerade im ersten Lockdown merkte man, wie froh die Menschen sind, dass der Prater rund um die Uhr genutzt werden kann. Zu entdecken gibt es überall etwas, von Orchideenflächen, die Ende Mai zu blühen beginnen, bis zu Haselmäusen und Schnecken. Gross fotografiert ein leeres Schneckenhaus, um das Bild ins Netzwerk von citizen-science.at zu stellen. Dort werden wissenschaftliche Projekte unter Mithilfe von interessierten Laien durchgeführt. In einem aktuellen Projekt geht es um die Erforschung der Wiener Turmfalken und wie es ihnen gelingt, sich an großstädtische Bedingungen anzupassen. Mein nächstes Projekt steht auch schon fest: Ich möchte mehr über Krähen wissen, die als extrem intelligent gelten. Fortsetzung folgt. (Karin Cerny, 18.12.2020)