Nicolas Mahler zeichnet und schreibt um.

Foto: Heribert Corn

Wir sehen ein ruderndes Männchen. Es landet auf der, so ein Schild, "Insel des schrecklichen Durstes", wandert durch die Landschaft, leert herumliegende Flaschen, macht schließlich bei einem Turm halt. So weit die ersten Bilder einer Odyssee, die von einem Tag im Leben dieses kleinen Mannes handelt. Es ist der 16. Juni 1904, er wird seiner Frau das Frühstück machen, dann durch die Stadt streifen, einkaufen, zu einem Begräbnis gehen, Freunde treffen, mit Wirtshausbesuchern streiten, sich erotische Eskapaden leisten und spätnachts im ehelichen Bett landen.

Lesern des Romans "Ulysses" von James Joyce wird der Tagesablauf bekannt vorkommen. Aber es ist nicht der 16. Juni in Dublin, der von Joyce-Fans jährlich als Bloomsday gefeiert wird. Der Protagonist, Vorname Leopold, heißt auch nicht Bloom, sondern Wurmb, und er streift nicht durch Irlands Hauptstadt, sondern durch Wien. Willkommen in einer Graphic Novel der Sonderklasse.

Die 1000 Seiten des in jeder Hinsicht überbordenden Meisterwerks von Joyce nachzuerzählen wäre sowieso zum Scheitern verurteilt. Also hat der Zeichner und Erzähler Nicolas Mahler ihnen ein Paralleluniversum übergestülpt. In diesem wankt Wurmb auf den Spuren des Originals durch den Tag. Er beginnt mit banalen Dialogen – "Wie geht’s sonst?" "Alles bestens. Und selbst?" "Man lebt." – und ufert in immer seltsamere Episoden aus.

Dafür hat Mahler sich eines schönen Hilfsmittels bedient, er hat Wiener Zeitungen, vor allem das "Neuigkeits-Welt-Blatt" jenes ominösen Tages, für seine Version des Bloomsday ausgeweidet. Die mehr als 100 Jahre alten Texte, Anzeigen und Überschriften hat er zu Collagen verarbeitet. Sie begleiten Wurmb, der wie sein Vorbild im Anzeigengeschäft (nicht sehr) tätig ist. Sie illustrieren das Frage- und Antwortspiel, aus dem wie bei Joyce ein ganzes Kapitel besteht: "Und seine Gedanken?" – "Das Ideal: Korsett Radikal. Macht überraschend lange Taille." Sie sind eine Fundkiste für altösterreichische statt irischer Namen: Boyle wird zu Berlyak, Dignam zu Homolka, Henry Flower zu Heini Bleampl.

Ulysses in Wien

Einige Passanten, denen Wurmb begegnet, ähneln klassischen Comicfiguren, etwa der Maus Ignatz oder dem Seemann Popeye – Mahler hat von ihm verehrte Vorbilder in das Geschehen geschmuggelt. Ein Joyce-Kenner hat ihn auch darauf aufmerksam gemacht, dass einige von ihnen sogar im "Ulysses" und in "Finnegan’s Wake" vorkommen. Mahler ist überzeugt, dass der irische Autor in seinem Triestiner Exil diese Helden der angeblich trivialen Literatur aus Zeitungsstrips gut kannte, er habe "alles aufgesaugt und ausgespuckt. Wenn nun ein Matrose vorkommt, dann ist Popeye für mich naheliegend." Die meisten anderen Figuren im neuen "Ulysses" und eigentlich in fast allen Mahler-Storys sind bis zur Austauschbarkeit reduziert: ein langer schwarzer Strich, unten dran zwei Stummelbeine, oben drauf ein Ei von einem Kopf, lange Nase, keine Augen, kein Mund, eine scheinbar ausdruckslose Fläche, in die man vieles hineinfantasieren kann. (Sich selbst zeichnet er ebenfalls als simplen Strich, nur dass dieser länger ist und oben drauf eine Brille sitzt, eine wirklichkeitsnahe Darstellung.)

Schon seine frühesten Strips waren Übungen in Minimalismus. Mahler kopierte und heftete sie noch selbst und steckte sie in einen Automaten am Graben, ein paar Schilling das Stück. "Wenn die zwölf Fächer nach einer Woche leer waren, war das schon ein großer Erfolg." Bei der "Arbeiter Zeitung" konnten er und ein Freund eine Comicserie unterbringen, "die war zwar täglich, aber die AZ hat nimmer lang existiert". Auf der Angewandten hielt es ihn auch nicht länger als ein Semester. Alle Professoren hätten gesagt, Comics seien künstlerisch wertlos, er möge doch lieber wirkliche Kunst auf großen Leinwänden machen.

Ebenso durchwachsen waren seine Versuche, als freischaffender Künstler Unterstützung zu bekommen. Er hat die Besuche in Wiener Ämtern zu autobiografischen Bildgeschichten verarbeitet, die zum Tragikomischsten zählen, was über österreichische Kulturpolitik je gepinselt wurde, nachzulesen in seinen "Goldgruberchroniken". Wie seine Arbeiten insgesamt haben sie weniger mit traditionellen Humor-Strips zu tun, mehr mit absurdem Theater, mit einer lakonischen Haltung gegenüber dem Alltagswahnsinn, wie sie Mahler auch in Gesprächen an den Tag legt.

Strip-affines Frankreich

Erste Erfolge hatte er, kein Zufall, im Strip-affinen Frankreich. Seit Ende der Neunzigerjahre veröffentlicht er dort im Verlag L’Association, seither bekommt er immer wieder Auszeichnungen und Publikationsmöglichkeiten, in Österreich unter anderem bei Luftschacht, im ALBUM und im Falter-Verlag, dort auch als Teil eines Cartoon-Quartetts mit Rudi Klein, Much und Tex Rubinowitz. Mittlerweile gibt es Arbeiten von ihm in elf Sprachen. "Im Moment werden welche ins Russische und Chinesische übersetzt", sagt er, "das wäre früher mit deutschsprachigen Comics nicht denkbar gewesen."

Vor zehn Jahren trat Suhrkamp an ihn heran. Er bekam die Möglichkeit, einige der bekanntesten Autoren des Verlags neu zu interpretieren. Ein Entree-Billet also in die hohe Literatur, das Mahler auf seine Art nutzte. In der ersten Adaptation, Thomas Bernhards "Alte Meister", folgte er noch relativ werkgetreu der obsessiven Litanei des Herrn Reger und dem Geschehen im Kunsthistorischen Museum. Seither nimmt er sich größere Freiheiten. "Das mit Suhrkamp ist ein bissl wie bei B-Movies", sagt Mahler. "Die Vorgabe ist: Es gibt nicht viel Geld, da ist das Thema, machts, was ihr wollt." Also machte er aus Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" und H. C. Artmanns "Frankenstein in Sussex" den grafischen 140-Seiten-Roman "Alice in Sussex", einen aberwitzigen Parcours durch Kaninchenbau und Talkshow, vorbei an grinsender Katze und rettendem U-Boot. Weiters "Der Mann ohne Eigenschaften" "nach Musil", die wortkarge Zelebration einer geistigen Unbeweglichkeit, wie sie der Autor seinerzeit wortreich geschildert hat; danach – nichts ist Mahler heilig – Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit": je ausufernder der literarische Schwall, desto radikaler das Skalpell des Zeichners.

Und nun eben "Ulysses" in Irland, der Insel des schrecklichen Durstes. Da lässt Mahler die ersten beiden Kapitel, in denen Stephen Dedalus seine frühen Auftritte hat, gleich ganz weg. "Der hat mich als Figur immer genervt. Bloom ab dem dritten Kapitel ist viel interessanter." Kapitel 15, "Circe", das in Dublins Rotlichtviertel spielt, verschiebt er, "das ist ja an Irrsinn nicht zu überbieten, also muss es noch weiter hinten sein." Er montiert, redigiert und schneidet das Original, als hätte er das Rohmaterial eines Films vor sich. Dazu steuert er Originalzitate, eigene Nachdichtungen und Wendungen aus dem "Neuigkeits-Welt-Blatt" bei: "Depperte Hypertrophie der Herzwand! ... Freund des Negligé-Schabernacks, bitt für uns! ... Puttana Madonna ... Haha. Merci. Esperanto!"

Die Mutter aller innerer Monologe

Am Ende des Romans stehen die Gedanken der Molly Bloom. Sie sind die Mutter aller inneren Monologe, ein mehr als 30 Seiten langer Fluss. Mahler kommt ihnen mit fast 100 gleichförmigen Bildern auf halbem Weg entgegen. Auch er meint, dass alle Menschen, selbst wenn man’s ihnen nicht ansieht, an irgendetwas denken ("bis auf die Leute in der U-Bahn, die auf den Telefonen mit Kugerlspielen beschäftigt sind, die haben mit der totalen Smartphoneverblödung das buddhistische Ideal erreicht und denken wirklich an nichts außer: Ich muss das Kugerl da jetzt runterschieben"). Er zitiert schließlich die berühmten letzten Worte von Leopolds Frau: "und ich hab ja gesagt, ja, ich will ja." Doch so geht für Mahler – auch darin besteht die Freiheit einer Adaptation – der Roman nicht zu Ende. Sondern ganz anders.

James Joyce, "Ulyssesh". Neu übersetzt, stark gekürzt, erweitert und gezeichnet
von Nicolas Mahler.
€ 24,70 / 288 Seiten.
Suhrkamp-Verlag, 2020
Foto: Suhrkamp

PS: Wer meint, dass schon die Comicfassung von "Ulysses" ein waghalsiges Unternehmen ist, der stelle sich vor, wie das erst bei dem eigentlich unübersetzbaren und in Wirklichkeit nicht einmal auf Englisch zugänglichen "Finnegan’s Wake" von Joyce ausschauen mag: nämlich völlig meschugge. Mahler hat sich daran gewagt. Es wird in einem lettischen Verlag erscheinen, bestellen kann man bereits im mahlermuseum.com. (Michael Freund, ALBUM, 19.12.2020)