Ausgebliebene Versöhnung: Thilo Krause.

Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Die Fahrt nach langer Zeit zurück in die Heimat ist immer mit gemischten Gefühlen verbunden. Man fragt sich, wie dieser und jener Platz mittlerweile aussieht. Ob der Schreibwarenladen an der Hauptstraße immer noch dem jungen, hippen Typen gehört, der hier irgendwie nicht so richtig ins Bild passen will. Ob die Realität noch hält, was die Erinnerung verspricht.

Diese und weitere Gedanken kommen einem aber nur in den Sinn, wenn man sich halbwegs versöhnlich aus seiner Stadt, seinem Kaff, seiner Heimat verabschiedet hat. In Thilo Krauses Debütroman "Elbwärts" hat diese Versöhnung nie stattgefunden.

Trotzdem zieht ein junges Pärchen samt ihrer Tochter zurück ins Felsland der Sächsischen Schweiz, an der nördlichen Grenze Tschechiens. Das liegt besonders am namenlosen Ich-Erzähler, der diese Reise in die Vergangenheit nutzen will, um sich genau mit dieser zu versöhnen.

Als kleiner Bub ist der Erzähler viel mit seinem besten Freund Vito unterwegs. Abenteuerlustig haben es ihnen besonders die hohen Felsen, Riffe und Klippen angetan, die nur darauf warteten, erkundet zu werden. Bei einem Kletterunfall verliert Freund Vito ein Bein. Von da an beginnt die Negativspirale, die dazu führt, dass der Familienvater Jahrzehnte nach dem Vorfall seine Heimat immer noch nicht ruhen lassen kann – und zurückkehrt.

DDR-Abenteuer

Der Roman ist zweigeteilt, wenn auch nicht in gleich große Stücke. Die Vergangenheitsperspektive, im Präteritum gehalten, erzählt die Geschichten und Abenteuer der beiden Buben als Kinder der DDR. Wie sie zusammen die Felsen erklimmen, wie der Unfall passiert und wie der Erzähler schließlich damit umgehen muss, nicht nur sich selbst für den Vorfall verantwortlich zu machen, sondern auch von Eltern, Lehrern und quasi dem gesamten Dorf abgestempelt zu werden. Als derjenige, der den Verlust des Beins seines besten Freundes mitzuverantworten hat.

Die Gegenwartsperspektive (im Präsens) erzählt die Geschichte des Familienvaters, der sich seiner Vergangenheit zu stellen versucht, dabei aber immer wieder an seine Grenzen stößt. Sei es wegen seiner eigenen Feigheit, sich dem ehemals besten Freund zu stellen. Sei es wegen der unliebsamen Blicke, die die immer noch an ein und demselben Platz stehenden und lästernden Dorfbewohner auf ihn werfen. Sei es wegen der offensichtlichen, aber nie benannten Depression, in die ihn diese Gegend stürzt und vor der ihn fast nur seine Tochter beschützen kann.

Krause lässt der Leserin und dem Leser viel Spielraum bei der Gestaltung der Figuren. Keine feingenauen Beschreibungen, hier und da einige Stichpunkte reichen, die Lesenden dazu einzuladen, Menschen aus der eigenen Vergangenheit und eventuellen Gegenwart in diese Rollen schlüpfen zu lassen.

Das gilt allerdings nicht für das Setting. Die Sächsische Schweiz ist so detailliert und mit solch einer Hingabe beschrieben, dass dieser Roman in keiner anderen Region spielen könnte. Das geht weit über die bereits angesprochenen Felsen und Wälder hinaus und endet bei dem Sommercamp der Neonazis, das in dieser Gegend auch niemanden wundert.

Reise in die Wahrnehmung

Die Ich-Perspektive vermittelt zudem eine beeindruckende Distanzlosigkeit zum Hauptcharakter. Zwar sind die Geschichten, die erzählt werden, festgeschrieben, in den Reaktionen der Menschen lassen sich aber von jeder Leserin und jedem Leser eigene Eindrücke aus der Kindheit und der Heimat einbauen. Und doch gibt der Roman Menschen vom Land wahrscheinlich mehr als Menschen aus der Stadt.

Denn Krause erzählt Geschichten, die zwar nicht nur in ländlichen Gebieten beheimatet sind, dafür aber hier mehr zum Tragen kommen, weil sie längere Strecken zwischen den wenigen Menschen zurücklegen müssen. Sie handeln von Misstrauen, Fremdenhass, Perspektivlosigkeit, von Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen. Oder wie es der Erzähler formuliert: "Im Laden ist niemand, als wüssten die Leute, dass es nichts mehr zu holen gibt."

Foto: Hanser-Verlag

"Elbwärts" ist ein kurzweiliges Buch, nicht nur, aber auch wegen seiner Struktur. Zwar gibt es längere Kapitel, diese sind allerdings noch in viele, teilweiseweise nur eine oder zwei Seiten lange Geschichts- und Gedankenstränge gegliedert. Wunderbar zu lesen.

Gleichzeitig beschäftigt man sich als Leserin oder als Leser noch wochenlang mit dem Erlebten, zieht Parallelen und Unterschiede zur eigenen Kindheit und Heimat. Thilo Krause hat einen Roman geschrieben, der für jeden, ob sie oder er sich nun gerne an seine Kindheit erinnert oder nicht, eine Reise in die eigene Wahrnehmung und Vergangenheit ist. Er wird die nächste Fahrt nach langer Zeit zurück in die Heimat definitiv verändern. (Thorben Pollerhof, ALBUM, 19.12.2020)