Bringen wir es hinter uns", sagt Marianne. "Einmal muss es ja sein, und das Wetter ist heute ideal." Ich bin unsicher, was ich darauf antworten soll, also stehe ich wortlos auf und beginne, die Dinge, die wir brauchen werden, in meinen Rucksack zu packen. Dass dieser Tag einmal kommen würde, habe ich gewusst, und Marianne hat mich genau instruiert, was wie in welcher Reihenfolge zu geschehen hat. Aber trotzdem wird es keine leichte Aufgabe, und entsprechend nervös bin ich. Eigentlich dürfen wir unser Haus gar nicht verlassen, aber glücklicherweise gibt es noch den Weg durch den Keller und den Hinterhof, um auf die Straße zu gelangen. Zugutekommt uns auch der Nebel, der sich am Nachmittag über die Stadt zu senken begonnen hat. Außerdem werden wir Gesichtsmasken, Sonnenbrillen und Mützen sowie ausgepolsterte Kleidung tragen, damit uns die Überwachungssysteme nicht so leicht erkennen. Die Route zum Friedhof haben wir so festgelegt, dass sie uns durch Nebenstraßen und Parks führt, wo die Chance, auf Polizei oder Polizeiroboter zu treffen, geringer ist als auf den Chausseen und in den Fußgängerzonen.

Den Mechanismus unserer Wohnungstür haben wir mithilfe eines Freundes, der sich mit so etwas auskennt, hacken können. Damit sollte gewährleistet sein, dass wir dem Supportteam über die Sprechanlage nicht sofort Rede und Antwort stehen müssen, warum wir die Wohnung verlassen wollen. "Kein Grund, traurig zu sein", sagt Marianne lächelnd, während ich die Riemen des vollgepackten Rucksacks schließe. "Wir machen uns einen schönen Tag."

"Das werden wir verdammt nochmal tun", pflichte ich ihr bei. Wir umarmen einander lange, dann brechen wir auf.

Dank des Nebels kommen wir gut voran, und an brenzligen Stellen hilft uns ein Störsender, Bewegungssensoren kurzfristig lahmzulegen. Nach knapp einer Dreiviertelstunde sind wir an unserem Ziel, der Rückseite des Zentralfriedhofs. Ich mache für Marianne die Räuberleiter und ziehe mich dann selber an der Mauer hoch. Ein Sprung auf die andere Seite, und wir haben es geschafft.

Genau hier kennengelernt

Heute ist Allerseelen. Normalerweise wäre der Friedhof voller Menschen, doch aufgrund der verordneten Ausgangssperre sind wir an diesem Tag die einzigen Besucher. Nun beginnt sich auch der Nebel wieder zu lichten, sodass es sogar ein wenig wärmer wird. Wir befreien uns von Maske, Mütze und Brille. "Mein Lieblingsfriedhof", sagt Marianne, während wir die schmalen Alleen zwischen den Gräberreihen entlangschlendern. Hier hatten wir einander kennengelernt, genauer gesagt habe ich Marianne hier kennengelernt. Ich war ihr ja schon als Mittelschüler aufgefallen, wie sie mir einmal erzählte.

"In welchem Jahr ...", setze ich an, aber Marianne bleibt abrupt stehen und bedeutet mir, still zu sein. Ich blicke in die Richtung, in die ihr Finger zeigt, und da entdecke auch ich den Fuchs, der in wenigen Metern Entfernung an uns vorbeitrabt.

"Ein gutes Zeichen", flüstert Marianne. Wir verharren noch eine Weile, sehen dem Fuchs nach und hören das Fallen der Blätter, das Krächzen der Krähen, aber als sich mit sirrendem Motorengeräusch eine Drohne ankündigt, verstecken wir uns schnell unter einer Eibe, bis sie vorbeigeflogen ist. Marianne hat diesen besonderen Tag sorgsam, nahezu zeremoniell geplant, und ich habe für die nötige Ausrüstung gesorgt. Marianne ist das Friedhofsgelände vertraut, deswegen sind wir bald dort, wo wir hinwollen, im westlichen Ehrengräberhain.

Die erste Station ist die letzte Ruhestätte von Helmut Qualtinger. Ich nehme die Decke aus dem Rucksack, breite sie auf die Wiese vor der Grabstele, stelle die Doppelliterflasche Veltliner und zwei Achtelgläser daneben, entkorke den Doppler und schenke uns ein. Dann erheben wir unsere Gläser und prosten der Büste auf der Stele zu, stoßen an und leeren sie in einem Zug. Marianne erzählt ein paar Anekdoten von ihm, da sie ihn persönlich gekannt hat, und ich komme mit dem Einschenken kaum nach. Wir haben beide einen großen Durst, vor allem aber Marianne. Ich hole den batteriebetriebenen Kassettenspieler hervor, und wir hören uns das von Qualtinger eingesungene Gedicht "aum eaxtn is s ma r one dia" von H. C. Artmann an. Dazu schütten wir ein Glas nach dem anderen in uns hinein, wobei wir freilich nicht vergessen, immer wieder ein bisschen Wein als Trankopfer in die Erde über dem Grab sickern zu lassen.

"'Bring es zu einem Ende!', herrscht sie mich an." Für den ausgezeichneten Schriftsteller Xaver Bayer waren die "Geschichten mit Marianne" ein Experimentierfeld.
Foto: Klaus Pichler

Als die Flasche leer ist, packe ich unsere Sachen zusammen, und wir wandeln zur nächsten Station: dem Grab des Musikers Kurt Hauenstein im östlich gelegenen Ehrengräberhain. Wir betrachten eine Zeitlang schweigend die Grabstätte, dann krame ich die Zigarettendose mit dem vorgebauten Dreiblatt-Joint und ein Feuerzeug aus dem Rucksack, zünde ihn für Marianne an, und während sie mehrmals tief inhaliert, drücke ich auf Play. Über die gesamte Länge des Songs "Lovemachine" wandert der Joint zwischen uns hin und her, während wir vor Supermax’ Grab tanzen, und ein von innerer Glückseligkeit herrührendes Strahlen macht sich auf unseren Gesichtern breit.

Als das Lied zu Ende ist, stecken wir den noch rauchenden Rest des Joints in den weißen Kies über der Grabplatte und gehen ein paar Schritte weiter zum Grab von Falco. Ich drücke erneut auf Play, und es ertönen die ersten Takte von Pusher, Mariannes Lieblingstrack von Falco. Ich reiche ihr den Koks-Dispenser, aus dem sie sich mehrmals bedient, bevor ich an der Reihe bin. Den Rest streuen wir, der Etikette folgend, auf die mit Blumen vollgestellte Grabstätte und setzen unseren Weg fort.

Das Kokain macht mir eine taube Zunge, mein Herz rast. Ich würde mich gerne irgendwo ausruhen, aber Marianne zieht mich am Ärmel mit sich, wieder in Richtung des westlichen Ehrengräberhains. "Wir haben es bald geschafft", versichert sie mir. "Ich weiß", sage ich, "aber warte kurz! Hier sollten wir eine rauchen." Wir stehen vor dem mit einer gekrönten Katze geschmückten Grab von Manfred Deix und gedenken seiner im Stillen, während wir uns eine Zigarette teilen.

Sag nicht Nein!

Arm in Arm begeben wir uns dann zur letzten Station, dem Grab des Sängers und Gitarristen Hansi Dujmic. Marianne hat Tränen in den Augen, als ich auf Play drücke und das Lied "Don’t Say No" anfängt, jener Song, mit dem Dujmic zum ersten Mal auf Platz eins der Hitparade landete, worüber er sich jedoch nicht mehr freuen konnte, da er kurz zuvor an einer Überdosis Heroin verstorben war.

Ich entferne den Reisigkranz mit den vier weißen Kerzen von der Grabplatte und lege unsere Decke darauf, hole eine Flasche Zwetschkenschnaps aus dem Rucksack, fülle zwei Stamperl, dann stoßen wir an. Ich rufe: "Auf das Leben!", und da bekommt Marianne einen Lachanfall. Sie lässt sich rücklings auf das Grab fallen, richtet sich aber prompt wieder auf, wischt sich die Tränen aus den Augen und blickt mich so eindringlich an, dass mich ein Schaudern durchfährt.

"Bring es zu einem Ende!", herrscht sie mich an. Also hole ich das Etui mit den zwei Spritzen hervor, öffne es und präsentiere sie. Marianne lächelt und sagt: "Ja, aber danach mach es, wie ich es dir gesagt habe. Ich mag nicht mehr. Ein halbes Jahrtausend ist genug."

Ich lasse das Etui sinken und blicke sie schweigend an. Es dämmert bereits, der Nebel ist wieder dichter geworden, und Mariannes Augen strahlen auf so gespenstische Weise, dass es mir durch Mark und Bein geht. "Ich bitte dich", sagt sie. Ich nicke langsam, dann beuge ich mich vor und küsse ihren Mund.

Ich flüstere "Adieu"

Als die Textzeile des nächsten Liedes "Ich bin dir ausgeliefert Tag und Nacht" zu hören ist und Marianne sich den Inhalt der Spritze in ihre Armbeuge drückt, um gleich darauf auf die Decke zurückzusinken, hole ich den zugespitzten Holzpflock und den Fäustel aus dem Rucksack. Dann platziere ich den Pflock zwischen Mariannes Brüsten, flüstere "Adieu", schließe die Augen, atme tief ein, reiße die Augen wieder auf und hämmere den Pflock mit einem Schlag tief in den Brustkorb, an der Stelle, wo ich Mariannes Herz vermute. Ihr Körper fängt an, in Zeitraffergeschwindigkeit zu zerfallen, und löst sich in Rauch auf, der sich mehr und mehr mit dem uns umgebenden Nebel vermengt und ihn noch dichter zu machen scheint. Letztlich liegt nur noch ihre Kleidung da.

Xaver Bayer, "Geschichten mit Marianne".
€ 21,– / 184 Seiten.
Jung-und-Jung-Verlag, 2020
Foto: Jung und Jung

Lange knie ich regungslos, bis ich durch das Klacken des Rekorders aus meiner Starre gerissen werde. Die Kassette ist zu Ende. Die "Geschichten mit Marianne" auch.

Ich erhebe mich und beginne, alles, was da noch liegt, auch Mariannes Gewand, in den Rucksack zu stopfen. Beim Etui mit der einen mir zugedachten Heroinspritze zögere ich und entleere sie dann auf Hansi Dujmics Grab.

Ohne einen Blick zurück setze ich meinen Weg fort durch den Nebel, der nunmehr so dicht ist, dass man nur mehr ahnen kann, in welche Richtung man geht. (Xaver Bayer, ALBUM, 19.12.2020)