In Gesellschaften wie der unseren sind Männer zu oft keine guten Menschen, weil wir sie nicht lassen.

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Na, das fängt ja gut an. Kaum ist das neue Jahr ein paar Tage alt, setzt es schon einen Text, der wirklich und wahrhaftig "Männer sind keine guten Menschen" heißt. Aber 2021 ist ein besonderes Jahr, von dem wir alle viel erwarten. Und yours truly Männerhasser erwartet eben noch ein bisschen mehr: nämlich dass wir anerkennen, wie schwer wir es Männern machen, gute Menschen zu sein, und dass wir alles daransetzen, die Situation zu verbessern. Mir ist natürlich klar, wie das klingt. Mir ist auch klar, dass ich mit Blick auf meine eigene Geschlechtszugehörigkeit im Glashaus sitze und dieser Text ein ziemlich großer Stein ist. Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, ihn zu werfen. Womöglich überzeuge ich sogar den einen oder die andere von Ihnen. Also fangen wir am besten einfach an. Der Autor und Referent Ran Gavrieli hat für den Umgang mit den Geschlechterstereotypen von Teenagern ein simple Veranschaulichung entwickelt.

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Er zeichnet einfach drei Spalten an die Tafel und lässt sich von ihnen Begriffe zurufen. Zuerst will er wissen, was einen Mann zum Mann macht, dann, was eine Frau determiniert, und zum Schluss fragt er nach, was einen guten Menschen ausmacht. Jeder und jede von Ihnen kann das gerne für sich durchspielen. Nicht die politisch korrekte "Ich weiß, was hier von mir erwartet wird"-Variante, sondern die Eigenschaften und Zuschreibungen, mit denen Sie aufgewachsen sind und die Ihnen im Herzen liegen.

Die typische Männerspalte, die bei Gavrieli zusammenkommt, sieht wie folgt aus. Ein Mann ist "stark, furchtlos, tapfer, er ist sportlich, ein Frauenheld, verdient viel Geld, ist ein Chef und ein Anführer". Bei der Beschreibung von Frauen dreht sich alles um aufopferungsvolle Liebe und Fürsorge, Verschönerung und Zartheit. Und was macht einen guten Menschen aus? Worin unterscheidet er sich von einer schlechten Person? Die Jugendlichen füllen diese Spalte mit Begriffen wie großzügig, hilfsbereit, mitfühlend, freundlich, ehrlich, vertrauenswürdig, offen, loyal, liebevoll, sanftmütig und verzeihend.

Warum sind gute Eigenschaften so wenig "männlich"?

Die Frage ist, was diese Eigenschaften mit unseren Vorstellungen von Männlichkeit zu tun haben. Wenn Sie die Spalten durchspielen, wie viel Schnittmenge kommt zwischen "Mann" und "guter Mensch" zusammen? Gavrieli jedenfalls beobachtet immer wieder, dass es eine signifikante Übereinstimmung gibt zwischen den Attributen, die Frauen zugeschrieben werden, und denen, die einen guten Menschen ausmachen. Zumeist geschieht das durch die Imagination der Frau als guter Mutter, die sich selbstlos kümmert, die tröstet, liebt und verzeiht. Aber was ist mit Männern? Sind die etwa keine guten Väter? Lieben, kümmern und trösten die etwa nicht? Natürlich tun sie das. Abertausende Männer weltweit bemühen sich nach Kräften, gute Väter zu sein. Gute Freunde, gute Nachbarn, gute Gefährten, Söhne und Kollegen. Gute Menschen eben.

Ihr Verhalten lässt sich in ihren besten Momenten mit gerade den Begriffen beschreiben, die in der Spalte "guter Mensch" aufgeführt sind. In ihren schlechtesten Momenten scheitern sie daran, so wie alle immer wieder daran scheitern. Aber sie geben ihr Bestes. Warum wird das nicht mit ihnen identifiziert? Warum ist das, was wir für gute Eigenschaften in Menschen halten, so weit weg von dem, was wir für männlich erachten? Warum fordern wir Macht, Stärke und Härte von Männern, wenn wir doch eigentlich wissen, dass es darum gehen sollte, den Ohnmächtigen den Rücken zu stärken, Menschen in schwachen Momenten zu unterstützen und mit ihnen zu fühlen und die Zartheit aufzubringen, zu berühren und sich berühren zu lassen?

Bitte einen liebevolleren Blick

Was sind das für Gesellschaften, die kaum bis keine gedanklichen Schnittmengen zwischen Männern und guten Menschen zulassen? Es sind unsere Gesellschaften, Ihre und meine. Gesellschaften, in denen Männer zu oft keine guten Menschen sind, weil wir sie nicht lassen. Weil wir ihnen erzählen, dass es unmännlich ist, genau die Dinge zu tun, die für uns gute Menschen ausmachen. In Wahrheit sitzen wir alle im Glashaus und schmeißen mit Steinen. Und dieser Text ist auch kein Stein, sondern ein Scheibenreiniger, den ich für einen liebevolleren, unverstellteren Blick auf Männer auftrage. Können wir also bitte, bitte 2021 endlich von dem für Männer leider immer noch üblichen Arschlochcurriculum absehen und damit anfangen, ihnen zu sagen, dass all die Eigenschaften, die für uns gute Menschen ausmachen, Männern so richtig gut zu Gesicht stehen? Dafür wäre es nämlich allerhöchste Zeit. (Nils Pickert, 3.1.2021)