Das Jahr 2020 stand auch in Wien im Zeichen der Coronavirus-Pandemie. Stadtchef Michael Ludwig (SPÖ) hätte sich in der Krise mehr Informationen und eine vorausschauendere Planung von der Bundesregierung gewünscht. Er spricht von einer "Hü-hott-Politik" der türkis-grünen Koalition. Die Stadt prüfe aktuell, an welchen hochfrequentierten Plätzen outdoor eine Maskenpflicht kommt.

"Wir haben einen Lockdown hinter uns gebracht und haben höhere Zahlen als Deutschland, das jetzt erst mit dem harten Lockdown beginnt. Das muss einen nachdenklich stimmen", sagt Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ).
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Die Bundesregierung plant einen dritten harten Lockdown bis 18. Jänner. Ist das der richtige Weg?

Ludwig: Maßnahmen müssen zur richtigen Zeit gesetzt werden. Wir haben gerade erst einen Lockdown hinter uns gebracht und haben höhere Zahlen als Deutschland, das jetzt erst mit dem harten Lockdown beginnt. Das muss einen nachdenklich stimmen. Es braucht eine Gesamtstrategie, die auch den übernächsten Schritt mitüberlegt – damit man nicht die Menschen ständig in der Ungewissheit lässt, was nächste Woche ist. Sie sind irritiert, weil sie überhaupt keine Planungssicherheit mehr haben. Und auch nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas verbessert. Über den Lockdown sollten nicht Politiker aus dem Bauch heraus entscheiden.

STANDARD: Braucht es Verschärfungen?

Ludwig: Es muss klare Spielregeln geben. Ich bin gegen alles aufsperren, alles möglich – und dann alles zusperren. Das ist eine Hü-hott-Politik.

STANDARD: Am Freitag wurde die Marke von 5.000 Covid-Todesopfern seit März durchbrochen. Ist die Situation außer Kontrolle?

Ludwig: Dass wir als Land weltweit zu den Spitzenreitern gehört haben, was die Infektionszahlen betrifft, stimmt nachdenklich. Da ist nicht Wien der Treiber, wie das bis zur Wien-Wahl im Oktober von Mitgliedern der Bundesregierung im Tagestakt behauptet worden ist. Wir haben im Bundesländervergleich die niedrigsten Infektionszahlen. Aber natürlich sind die Zahlen insgesamt zu hoch. Wir müssen Maßnahmen setzen, um zu verhindern, dass Menschen in so eine Situation kommen.

STANDARD: Weihnachtsfeiern sind noch mit bis zu zehn Personen erlaubt. Danach soll der Lockdown kommen. Zu Silvester war erst eine Ausnahme der Ausgangssperren geplant. Jetzt kommt sie doch nicht. Ist das alles für Sie nachvollziehbar?

Ludwig: Wien hat immer die Maßnahmen des Bundes mitgetragen. In so einer Krise soll man kein politisches Kleingeld wechseln. Aber die Bundesregierung macht es einem nicht leicht. Ich kann verstehen, dass in der Bevölkerung immer mehr Irritation eintritt. Maßnahmen müssen vorbereitet werden, damit sie umsetzbar sind.

STANDARD: Wieso hat man es nicht geschafft, Risikogruppen und Ältere ausreichend zu schützen, die vor allem von dieser Übersterblichkeit betroffen sind?

Ludwig: Wir haben sehr schnell Zugangsbeschränkungen zu Spitälern, Pflegeheimen und Pensionistenwohnhäusern verhängt. Dafür sind wir auch kritisiert worden. Aber es war trotzdem richtig. Wir haben zumindest in den allermeisten Fällen verhindern können, dass es Clusterbildungen in Pflegeeinrichtungen gibt.

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) hat von der Diakonie einen Adventkranz erhalten. Die Impfung wird er dann bekommen, wenn er aufgrund seines "Alters und sonstiger Kriterien" drankomme.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Am 27. Dezember soll die erste Person in der EU gegen Covid-19 geimpft werden. Wann ist der erste Wiener dran?

Ludwig: Die EU-Staaten sollen gleichzeitig den Impfvorgang starten. In Österreich wird in Wien und Niederösterreich begonnen. Wenn die Impfdosen bei uns einlangen, werden sie sofort verimpft. Dafür werden wir Vorkehrungen treffen.

STANDARD: Im Frühjahr sollen vorerst 900.000 Impfdosen geliefert werden. Ab wann rechnen Sie mit einer Entspannung der Pandemie?

Ludwig: Das wird nur schrittweise passieren und ein langsamer Prozess sein. Durch eine Impfung wird man unabhängiger von Sicherheitsmaßnahmen. Es wird eine sehr starke Impfdynamik entstehen. Das wird aber erst gegen Jahresmitte passieren. Wichtig ist, dass der Zugang zu den Impfdosen sozial gerecht verteilt wird.

STANDARD: Werden wir im Sommer 2021 wieder zur Normalität zurückkehren, wie es Kanzler Sebastian Kurz prophezeit hat?

Ludwig: Es wird kein Sommer wie früher sein. Aber er wird freier sein.

STANDARD: Wann werden Sie geimpft?

Ludwig: Als Politiker ist man in einer Doppelmühle. Wenn man sich zuerst impfen lässt, sagen alle: "Eh klar, die haben ein Privileg." Wenn man sich nicht gleich impfen lasst, sagen manche: "Die wollen uns als Versuchskaninchen." Ich werde mich dann impfen lassen, wenn ich aufgrund meines Alters und sonstiger Kriterien drankomme. Eine Zulassung in der EU bedeutet, dass es ein sicherer Impfstoff ist.

In Wien gibt es bereits eine Outdoor-Maskenpflicht im Marktgebiet. Nun würden weitere Möglichkeiten geprüft, sagt Bürgermeister Michael Ludwig.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Auf hochfrequentierten öffentlichen Plätzen sollen die Länder auch draußen eine Maskenpflicht verhängen können. Gibt es da Pläne für Wien?

Ludwig: Wir prüfen, welche Vorkehrungen zu treffen sind. Das muss ja auch markiert, ausgeschildert und kontrolliert werden. Im Marktgebiet gilt in Wien schon lange Maskenpflicht. Aber wie ist das bei Menschenansammlungen vor Einkaufszentren oder Bauhäusern? Da sehe ich noch nicht, wie das exekutiert werden soll. Wir warten auf klare Definitionen. Es wäre sinnvoll gewesen, wenn man sich das vorher gemeinsam überlegt hätte.

STANDARD: Bei den Massentests des Bundes war Wien auf 150.000 Tests pro Tag vorbereitet, doch nicht einmal 235.000 Personen haben teilgenommen. Das sind 13,5 Prozent der Wiener. Hat das Hickhack zwischen Wien und Bund die Menschen davor abgeschreckt, mitzumachen?

Ludwig: Es hat kein Hickhack gegeben. Es hat ein Hack gegeben – auf Wien. Viele Menschen ließen sich schon vorher testen. Wir haben nicht darauf gewartet, dass dem Kanzler in einer Pressestunde Massentests einfallen. Wir haben in Wien eine sehr lange geplante Teststrategie und bis jetzt mehr als 880.000 Menschen getestet.

STANDARD: Es soll weitere Massentests im Jänner geben. Plant Wien eine abgespeckte Variante?

Ludwig: Nein, aber wir haben aufgrund der Erfahrungen die Möglichkeit, bei der personellen Ausstattung etwas zurückzugehen.

STANDARD: Der Tourismus in Wien ist wirtschaftlich heftig von der Corona-Krise getroffen. Bei der Hotellerie gibt es ein Minus von 80 Prozent. Muss sich die Hauptstadt 2021 auf eine massive Pleitewelle gefasst machen?

Ludwig: Es wird für die gesamte Wirtschaft eine Herausforderung. Durch die finanziellen Leistungen der öffentlichen Hand werden manche Betriebe in Balance gehalten. Diese brauchen bald wieder die Möglichkeit, wieder wirtschaften zu können. Das wird alles sehr fordernd – auch für die Banken. Es wird darum gehen, alle Stundungen, die man erteilt hat, zeitlich so zu strecken, dass Betriebe die Möglichkeit haben, das wieder zurückzuzahlen. Das wird dauern.

STANDARD: Wien-Tourismus-Chef Norbert Kettner rechnet erst 2024/25 mit einer Erholung auf Vor-Corona-Niveau. Wie will Wien das durchstehen?

Ludwig: Es wird davon abhängen, wie schnell es gelingt, auch international Menschen zu impfen. Wir haben unseren Tourismus ganz stark ausgebaut in Richtung Europa, Asien und USA. Diese Besucher können derzeit nicht kommen. Das wird sich langsam wieder positiv entwickeln. Aber es wird sicher Jahre dauern.

Bürgermeister Michael Ludwig zum Bau der U5: "Wenn man ein Projekt zeitlich verschiebt: Dass das nicht billiger wird, ist irgendwie klar."
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Der Bau des neuen U-Bahn-Linienkreuzes U2/U5 wird viel teurer und später fertig als angekündigt. Wo sehen Sie Versäumnisse in den Planungen?

Ludwig: Ich sehe gar keine Versäumnisse. Dass sich das Projekt verzögert hat, hängt ja damit zusammen, dass uns die Angebote der Baufirmen zu hoch erschienen sind. Es ist ja bis jetzt noch kein Euro für die Durchführung des Baus ausgegeben worden. So wie die Oppositionsparteien jetzt versuchen, da eine Verteuerung darzustellen: Wovon? Es hat ja noch keine konkreten Baumaßnahmen gegeben. Wenn man ein Projekt zeitlich verschiebt: Dass das nicht billiger wird, ist ja doch klar. Wir nehmen nicht jedes Angebot an und machen uns nicht abhängig von Angeboten, die uns zu hoch erscheinen. Das ist für mich eine verantwortungsvolle Politik.

STANDARD: Vor rund vier Wochen haben Sie die neue rot-pinke Koalition in Wien präsentiert. Was können Sie umsetzen, was mit den Grünen nicht geklappt hätte?

Ludwig: Ich stehe weiterhin auch mit den Grünen im Dialog. Es gibt viele Anliegen, die die Grünen gemeinsam mit der Sozialdemokratie begonnen haben, die wir jetzt mit den Neos umsetzen. Mit neuen Akzenten ergänzt. Es wird vielleicht auch gelingen, zu dritt oder zu viert im Gemeinderat Lösungen zu finden. Ich habe mit Vizebürgermeister Wiederkehr Hilfsorganisationen begrüßt, denen wir Geld für die Betreuung von Familien in Moria zur Verfügung gestellt haben. Das war Ergebnis eines Beschlusses von SPÖ, Neos und Grünen.

STANDARD: Fast jeder dritte Wiener hat einen ausländischen Pass. Neos-Chef Christoph Wiederkehr tritt für schnellere Verfahren und mehr Einbürgerungen ein. Sind Sie ebenfalls für mehr Einbürgerungen?

Ludwig: Ich bin für Einbürgerungen dann, wenn die Menschen sich zu unserem Land und zu unserer Stadt bekennen. Das ist in vielen Fällen auch so. (Oona Kroisleitner, David Krutzler, 18.12.2020)