Der Ritt in die Freiheit, unternommen auf dem Bullenfänger der Dampflokomotive: Stummfilmstar Buster Keaton in "Der General" (1926).

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"Komm! Ins Offene, Freund!" Das lockende Hölderlin-Wort klingt uns dieser Tage merkwürdig höhnisch in den Ohren. Seit wir im Bann der Pandemie stehen, ist es uns regierungsamtlich aufgegeben, besonders eingehend die eigenen vier Wände zu studieren. An die Stelle alter, wurmstichiger Schlagbäume oder elektrischer Zäune ist – wenigstens für Europas Wohlstandsbürger – die offizielle Reisewarnung getreten. Auch die Ankündigung erster Durchimpfungsversuche ändert kein Jota an der verordneten Immobilität. Die Pandemie wird uns noch ein bis zwei Jahreshälften lang sehr empfindlich an der Bekämpfung des Fernwehs hindern.

Jene Freiheit, die Reisen nach z.B. Norwegen oder Namibia (noch) nicht ausdrücklich unter Quarantäne-Androhung stellt, scheint einigermaßen wertlos. Jedes echt gemeinte Fernweh visiert unbekanntes Terrain an. Gerade die vollkommene Offenheit jeder Reiseentscheidung soll für Erlebnistiefe bürgen.

Fernweh? Ist unbestimmt. Es bleibt auf struppige, nicht vereinnahmte Landschaften gerichtet. Das Kontrastprogramm einer maßvoll gebändigten Wildnis soll uns dabei helfen, unsere allernächsten Verhältnisse – das sauber parzellierte Glück im Verband hilfreicher Nachbarschaft – zu hinterfragen. Wer jedoch kurz entschlossen reist, macht sich vor allem auf das Unerschlossene gefasst. Glück ist dabei von kurzer Dauer. Die Landschaft, die bei solchen Abstechern zum Vorschein kommt, stürzt gerade scharfe Geister häufig in Verlegenheit. Theodor W. Adorno gehörte zu jenen "Emigranten", die die amerikanische Wildnis unfreiwillig studierten: weil sie vor den Nazi-Mördern hatten fliehen müssen.

Adorno sah dort, in der Prärie, die "schimmernde Bahn" der Asfaltstraßen gegen die "allzu wild verwachsene Umgebung" im Kontrast stehen. Weil er die Gegend aber aufgrund solcher Gegensätze als eminent trostlos empfand, blieb er selbst ungetröstet. Der berührendste Satz in seinem Prosa-Impromptu "Paysage" (aus den "Minima Moralia", 1951) lautet denn auch: "Es ist, als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren."

Fiktive Hafenstadt

Doch Reisen sollten in der Literatur der Moderne ohnehin immer mehr sein als Abstecher oder Blindflüge, mehr jedenfalls als das Ergebnis ungerichteter Fluchtimpulse. Der französische Roman des 20. Jahrhunderts steckt voller Ausflüge, die zugleich Ausflüchte sind.

In Jean-Paul Sartres existenzialistischem Schlüsselwerk "Der Ekel" (1938) bezieht der einsame "Held", Antoine Roquentin, ein Zimmer in der fiktiven Hafenstadt Bouville. Das heißt so viel wie "Drecksstadt" und meint, der äußeren Kennzeichnung nach, Le Havre. Roquentin hält sich mehrere Monate in Bouville auf. Das Kaff, mit Anzeichen urbaner Zersiedelung geschlagen, lehrt ihn, den gelernten Pariser, den Ekel an Menschen und Gegenständen kennen. Ein geradezu körperliches Gefühl der Überflüssigkeit aller Dinge plagt ihn, den notorischen Einzelgänger. Er schläft mit der Wirtin des einzigen für ihn in Frage kommenden Nachtcafés und scheut im übrigen Anwandlungen von Nähe wie der Teufel das Weihwasser.

Gegen latenten Ekel, ausgelöst durch unbehagliche Milieus, fand sich zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts kein Impfstoff im Handel. Das Gefühl, fremd zu sein im Nachbar- oder sogar im eigenen Land, stand ein für ein permanentes Krisengeschehen.

Die Aneignung von Welt geriet nachdrücklich ins Stocken. Die Suche nach "Fährten und Fundstücken aus Zeiten und Räumen" (Hanns Zischler) führte ohne Umschweife ins Abseits. Wo auf der einen Seite jede Art Wildnis in den Betrachtern Abscheu erregte, stürzte die Begehung der Metropolen – schon durch das Gewusel alltagsmobiler Menschen – deren Gäste vollends ins Chaos. Städtetouristen ließen sich von der unübersichtlichen Anlage der Siedlungen ins Bockshorn jagen. Noch in den 1950er-Jahre-Romanen Michel Butors, etwa in "Der Zeitplan" (1956), verloren sie sich in einem erstickenden Dunst, der aus Mutmaßungen und Industriestaub gebildet wurde.

In das Gefühl von Verlorenheit mischen sich in dieser "Reiseliteratur" weitere unschöne Empfindungen, wie Daseinsangst, Agoraphobie, Weltverlust. Oft scheint es, als hätten die treuherzigen Besucher solcher Umschlagplätze sich ihrem Wirtskörper zu assimilieren. Bis von ihnen keine Spur mehr übrig ist.

Zivilisation der Verrichtungen

Wer die Landschaft tatsächlich aufsucht, und sie nicht nur via Highway oder Kamerafahrt zu durchqueren wünscht, der muss, so lautet das Fazit, in der Zivilisation der "automatischen Verrichtungen" mit der schlimmsten Möglichkeit rechnen. Er oder sie wird zum Verschwinden gebracht. Es war wiederum Adorno, der in einem anderen seiner Prosastücke, "Kalte Herberge", vor dem Schreckensbild der Hostess warnte. Sie sei die "synthetische Frau Wirtin". Als solche bilde sie, ungeachtet ihres Liebreizes, "das lächelnde Reversbild des Hinauswerfers".

Corona hin oder her, die verlässlichste Helferin beim Kurieren jedweden Fernwehs bleibt die Literatur. Auch wenn sie einem gerade nicht begütigend übers Haar fährt. (Ronald Pohl, 19.12.2020)