Paul McCartney in seinem Studio in einer umgebauten alten Windmühle im südbritischen Sussex. Zum schottischen "Mull of Kintyre" ist es von dort ein breiter Weg.

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Wir müssen jetzt fast 60 Jahre zurückgehen, um dem heutigen Thema gerecht zu werden. Damals hat jemand im Neuen Testament der Popmusik für alle Menschen, die guten Willens sind, also nicht in der Hölle von Gabber-Techno und Grunz-Metal braten wollen, geschrieben: Wenn man etwas gegen die Beatles sagt, ist das vom Prinzip der Aktion und Reaktion her gesehen so, als würde man mit einem Ziegelstein das Fenster des örtlichen sizilianischen Kulturvereins einschmeißen.

Man hat die Beatles als wichtigste Band des 20. Jahrhunderts gefälligst zu lieben, hochzupreisen und auch vor den Solowerken der nun auch schon wieder seit 50 Jahren auseinandergegangenen Pilzköpfe im Staub zu kriechen. Das Gute bei den Beatles, wenn man mit ihnen als Kind aufgewachsen ist: Man muss sie heute nicht mehr hören. Ein Songtitel reicht, und man hat das Lied im Ohr. Das erspart Zeit und auch die Notwendigkeit, immer wieder dieselben alten Platten aus dem Regal zu ziehen.

Wir merken schon, solche Musik wird heute gar nicht mehr gebaut. Ein dem Autor sehr gut bekanntes, in den Nullerjahren geborenes Kind hat einmal angemerkt, es möge die Beatles nicht. Deren Lieder würden sich immer so stark in den Kopf bohren. Eben.

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Man muss dies vorausschicken, um zum neuen Soloalbum von Paul McCartney zu gelangen. Es heißt McCartney III, weil es sich nach McCartney von 1970 und McCartney II von 1980 tatsächlich um das dritte reine Soloalbum des heute 78-Jährigen handelt. Vor diesem kniet gerade die freie westliche Presse mit der Betonung auf "wir alten weißen Männer". Lobpreiset den Paul!

Wir alle sind also einst in den 1960er- und 1970er-Jahren mit den Beatles aufgewachsen. Wir alle könnten gut und einschläfernd erklären, warum es sich bei Mull of Kintyre mit seinem Kelly-Family-Kitsch nicht um eine banale Dudelsackschmonzette handelt, und auch, weshalb Ebony and Ivory die Black-Lives-Matter- und Rassismus-Debatte vorweg für die gesamte Menschheit löste. Ja, Andreas Gabalier verreißen macht Spaß, wir gehen aber jetzt dorthin, wo es wehtut.

Paul McCartney war 27, als sich die Beatles auflösten. John Lennon starb 1980, George Harrison 2001. Ringo Starr befindet sich seit seinem letzten guten Studioalbum namens Goodnight Vienna von 1974 in kreativer Frührente. Paul McCartney konnte während der 1970er-Jahre mit einer Band namens Wings einige Welterfolge im Bereich des Stadion-Softrock einfahren, Band on the Run, Live and Let Die, Jet.

Paul McCartney - Topic

Er veröffentlichte bis heute mit wechselnden Musikern gut zwei Dutzend "beatleske", also klassische Popsong-Alben (aber auch Klassik und unter dem Titel The Fireman Tanzelektronik). Jetzt kommt der Ziegelstein: Wesentliche Songs sind davon leider nicht in Erinnerung.

McCartney III ist heuer im Lockdown entstanden. Paul McCartney hat es mit wenigen Ausnahmen tatsächlich solo eingespielt und produziert. Man kann den neuen Songs auch nichts vorwerfen, immerhin handelt es sich beim umtriebigen Greis um den zentralen Popkomponisten des 20. Jahrhunderts.

Der beatleske Beatle

So scheppern dann auch aus dem Ärmel geschüttelte Songs wie Lavatory Lil oder Slidin’ so zeitgemäß alternativrockig dahin, als würde McCartney gerade die White Stripes hören, um danach in Deep Deep Feeling Quietschenten-Autotune und R ’n’ B mit Progressive Rock kurzzuschließen. Man kann Paul McCartney definitiv nicht vorwerfen, dass er irgendwann als sogenannter Erwachsener beschlossen hätte, alles, was nach dem ersten Kind an Musik daherkommt, als neumodischen Quatsch zu verdammen.

Allerdings ist die Stimme im Alter dünn geworden und in die Höhen gewandert. Das irritiert beim Simply-Red-Soul Deep Down oder der Klavierballade Women and Wives dann doch erheblich. Es raubt den Songs die Tiefe. Fassen wir es so zusammen: Gut, dass Paul McCartney noch da ist. Ich sage jetzt Yesterday. Komm, sing mit! (Christian Schachinger, 18.12.2020)