"In den USA wütet die Pandemie beinahe ungebremst": Dieser Satz war unter Verweis auf hohe Infektions- und Todesraten am Freitag im Ö1-Morgenjournal zu hören. Dabei braucht es gar keinen Blick ins Trump-geschädigte Riesenland, um zu einem dramatischen Urteil zu kommen. In Österreich starben gemessen an der Bevölkerung zuletzt mehr Menschen am Tag am Coronavirus als in den Vereinigten Staaten.

Erstaunlicherweise ist diese Tragödie gar kein so großes Thema. Die vielen Toten dringen in persönlichen Gesprächen, politischen Debatten und Medienberichten nicht in den Vordergrund. Offenbar macht sich da Verdrängung breit – wer will sich am Ende eines Jahres, das einem selbst schwer zu schaffen gemacht hat, auch noch mit dem Leid anderer auseinandersetzen? Den Rest besorgt der in Jahrzehnten der Erfolgsgeschichte eingeimpfte Glaube an die Selbstheilungskraft der Nation: Wir Österreicher sind doch immer irgendwie besser durch jede Krise gekommen.

Geschlossenes Geschäft in der Wiener Innenstadt.
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Der Corona-Herbst straft Eigenlob Lügen. Vom "small smart country" (© Sebastian Kurz) ist Österreich zwischenzeitlich zu einem der Covid-Hotspots Europas verkommen. Trotz aller Restriktionen sind die Infektionsraten immer noch so hoch, dass sich über lockere Feiertage eine dritte Welle aufzubauen droht. Ein Lockdown nach Weihnachten während der Ferienzeit scheint alternativlos – doch der Weg dorthin war es nicht. Zu oft hat die Regierung die Orientierung verloren.

Damit soll nicht behauptet werden, dass nach dem Sommer jegliche Sperrzeit zu verhindern gewesen wäre. Alle Regierungen vergleichbarer Länder sind mit der schwer berechenbaren Pandemie überfordert, und auch so manche Expertenaussage wurde von der Realität überholt. Doch die türkis-grüne Koalition hat Fehler begangen, bei denen sie es nicht nur im Nachhinein besser hätte wissen können.

Sprunghafte Politik

Es begann im Oktober, als Gesundheitsminister Rudolf Anschober einen zweiten Lockdown trotz explodierender Infektionszahlen weggeredet hat. Eine entschlossenere Reaktion hätte dem Land einen Polster verschaffen können, um die wirtschaftlich unverzichtbare Konsumorgie vor Weihnachten gut zu verkraften. Dass der dann doch verhängte Lockdown weniger wirkte als die Erstauflage, ist zum Teil ebenfalls hausgemacht. Sprunghafte Politik – eine neue Regel nach der anderen – hat offenbar so viel Verwirrung gestiftet und Vertrauen zerstört, dass ein Teil der Bevölkerung nicht mehr folgen kann und will.

Die Hoffnungen enttäuscht haben auch die Massentests. Statt das Projekt schlecht vorbereitet in fragwürdiger Form durchzupeitschen, nur weil es sich Kanzler Kurz einbildet, hätte die Regierung – wie der Epidemiologe Gerald Gartlehner in der ZiB 2 überzeugend ausführte – besser die Tests in den arg getroffenen Altenheimen ausweiten sollen.

Der Plan für die nächsten Massentests lässt nicht vermuten, dass die Koalition die Kritik beherzigt: Wieder findet die Aktion zu einem ungünstigen Zeitpunkt nach einem Lockdown statt. Dass ein negatives Ergebnis berechtigen soll, ab dem 18. Jänner shoppen und essen zu gehen, ist ein cleverer Trick, um die Teilnahme zu steigern, aber in der Sache heikel. Denn echte Sicherheit gibt ein Test für kaum mehr als einen Tag.

Missverstehen die Bürger das "Freitesten" als Freibrief, droht sich der Fluch des Herbstes zu wiederholen: Großer Aufwand bringt bescheidenen Erfolg. (Gerald John, 18.12.2020)