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Ein Staatsoberhaupt, das sich zu Staatsangelegenheiten äußert? In den Monarchien Europas, wo Königinnen und Könige vor allem repräsentative Aufgaben erfüllen, ist das keine Selbstverständlichkeit. Wenn dann doch jemand vom Thron herab das aktuelle Geschehen kommentiert, ist der Anlass meist ernst. Wie am Donnerstag, als der schwedische König Carl Gustaf sich mit Kritik an der Corona-Politik der Regierung ungewohnt weit aus der Deckung wagte.

Zentraler Satz in seinem Interview für das schwedische Fernsehen SVT: "Ich denke, wir sind gescheitert." Carl Gustaf trauerte insbesondere um die vielen Toten – und drückte all jenen Familien sein Mitgefühl aus, die sich von ihren verstorbenen Verwandten pandemiebedingt nicht einmal in Würde verabschieden konnten.

Sackgasse Sonderweg?

Bedeutet das nun, dass der schwedische Sonderweg tatsächlich eine Sackgasse war? Von Anfang an hat die Regierung in Stockholm mehr auf Eigenverantwortung gesetzt und harte Lockdown-Maßnahmen weitgehend vermieden. Vorläufige Bilanz: 7800 Covid-Tote in dem Land mit etwas mehr als zehn Millionen Einwohnern. Zum Vergleich Österreich: knapp neun Millionen Einwohner und 5000 Todesfälle.

Selbst umgerechnet auf die Bevölkerung sind das deutlich weniger Tote als in Schweden. Aber würde man hierzulande deshalb von einem durchschlagenden Erfolg bei der Corona-Bekämpfung sprechen? Besonders seriös wäre das wohl nicht. Bei aller Unterschiedlichkeit der Zahlen: Das dicht besiedelte Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft.

Auch die Aufteilung in Musterschüler, Schlusslichter und die gesamte Skala dazwischen hält der Realität häufig nicht stand. Allzu oft hat sich das Blatt schon gewendet. Und bei genauerem Hinsehen lassen sich auch in den einzelnen Ländern jeweils gravierende regionale Unterschiede ausnehmen. Staatsgrenzen, so zeigt sich, sind für das Infektionsgeschehen in Europa nur mäßig relevant.

Pingpong-Effekte

Wenn man König Carl Gustaf also recht geben will, dann müsste man wohl hinzufügen: Nicht Schweden ist gescheitert, sondern wir alle. Dass ein Land manchmal besser dasteht als andere, dass Regierungen dann versucht sind, die eigenen Erfolge zu rühmen und sich als Vorbilder zu stilisieren, ist trügerisch – und sogar riskant: Wo auf nationale Unterschiede national unterschiedlich reagiert wird, droht Experten zufolge auch die Entstehung von Pingpong-Effekten, die immer wieder neue Corona-Wellen über den Kontinent schicken.

So gut wie jedes europäische Land hat seine eigene Geschichte aus Erfolgen und Misserfolgen. Wie nah beides beieinanderliegen kann, zeigt sich am Beispiel Tschechien: Während der ersten Welle im Frühjahr zählte das Land zu den Vorreitern bei der Pandemiebekämpfung. Die Maßnahmen waren strikt, sehr früh gab es Maskenpflicht im öffentlichen Raum, selbst beim einsamen Spaziergang auf der Straße. Entsprechend erleichtert war man über die Lockerungen im Sommer, als das Leben wieder fast seinen normalen Gang ging. Als aber im Frühherbst die Corona-Zahlen wieder stiegen, zögerte Premier Andrej Babiš mit Verschärfungen. Kritiker werfen ihm bis heute vor, dass er mit Blick auf die Regionalwahlen im Oktober unpopuläre Schritte vermeiden wollte. Bald darauf war Tschechien das Land, das EU-weit im Verhältnis zur Einwohnerzahl die meisten Neuinfektionen verzeichnete.

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Der tschechische Premier Andrej Babiš.
Foto: Reuters/Yves Herman

Auch die Slowakei war anfangs gut durch die Krise gekommen. Drastische Maßnahmen etwa bei der Einreise, die viele Menschen oft auf unbestimmte Zeit in staatliche "Quarantänezentren" brachten, sorgten aber für viel Unmut. Auch wegen der jüngsten Massentests wurde Premier Igor Matovič, der sich nun – wie man seit Freitag weiß – selbst mit dem Coronavirus infiziert hat, heftig kritisiert. Einer der Vorwürfe: Die Tests seien nicht wirklich freiwillig gewesen, weil Verweigerern, anders als beim österreichischen Massentest im Dezember, empfindliche Sanktionen drohten.

"Ländersache" Gesundheit

Deutschland wiederum machte, wie es dem Naturell von Kanzlerin Angela Merkel entspricht, kaum durch aktionistische Alleingänge von sich reden. Auffällig sind dort aber die teils markanten regionalen Unterschiede – zunächst bei den Maßnahmen und derzeit auch bei den Infektionszahlen. Insofern ist Deutschland, wo der Infektionsschutz Ländersache ist, gewissermaßen das Abbild Europas im Kleinen: Immer wieder pochten Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Bundesländer auf eigene Regeln. Merkel warb für strengere Bestimmungen, doch die stundenlangen Verhandlungen mit den Länderchefs, die nur laue Kompromisse brachten, sind legendär. Erst kurz vor Weihnachten, als die Zahlen nicht wie erhofft sanken, wurde der Ruf nach Merkels Krisenmanagement laut.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.
Foto: imago images/Political-Moments

Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Überall gab es Erfolge und Rückschläge, Phasen der Erleichterung und Zeiten der Panik, Regionen mit wenigen Infektionen und Orte mit massiven Clustern. Sars-CoV-2 macht dabei vor nationalen Grenzen nicht halt. Selbst wenn ein Land erfolgreiche Maßnahmen ergreift, das Nachbarland aber nicht, droht das Pingpong-Spiel erneuter Einschleppungen.

Wissenschafter warnen

Die Regierungen in Europa mögen sich deshalb zu gemeinsamen und deutlich ambitionierteren Zielen verpflichten. Das fordern 20 internationale Fachleute aus den Bereichen Virologie, Epidemiologie, Modellierung und Ökonomie in einem gemeinsamen Positionspapier, das in der Nacht von Freitag auf Samstag im renommierten Fachjournal "The Lancet" veröffentlicht werden sollte. Viele weitere Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft haben die Erklärung unterzeichnet, darunter auch etliche aus Österreich.

Einziger Ausweg aus der derzeitigen Situation ist aus ihrer Sicht eine synchronisierte Eindämmungsstrategie. Ihre Forderung ist keine geringe: Ein Maximum von zehn Neuinfektionen pro eine Million Einwohner pro Tag sollte erklärtes Ziel in ganz Europa werden. Umgerechnet auf die in Österreich gängige Einheit der Inzidenz wären das sieben Fälle pro 100.000 Einwohner pro Woche. Zum Vergleich: Die aktuelle Inzidenz liegt in Österreich bei über 200 – nach Höchstständen knapp unter 600. (Gerald Schubert, Klaus Taschwer, 19.12.2020)