"Wonder Woman 1984" mit Gal Gadot startet bereits zu Weihnachten in Kinos und als Stream – vorerst in den USA, wohl bald aber auch in Europa.

Warner

Die ihr magisches Lasso der Wahrheit schwingende Wonder Woman bildet die Vorhut. Über Weihnachten wird der zweite Blockbuster mit Gal Gadot als DC-Comics-Superheldin zeitgleich in den US-Kinos und auf HBO Max, dem hauseigenen Streamingdienst von Warner, starten. Die ersten Kritiken fielen positiv aus, doch dass sich mit der neuen Verwertungslogik auch die erhofften Einnahmen einstellen, daran glaubt momentan kaum jemand. Mehr als 50 Prozent der US-Kinos sind noch geschlossen, und HBO Max gehört mit 12,6 Millionen registrierten Usern eher zu den Streamingzwergen.

Warner Bros. Pictures

Das Lasso der Wahrheit wird mithin eher offenbaren, dass die jüngste Offensive von Warner nur der Versuch ist, HBO Max zu promoten. Ähnliches hat Disney+ im Corona-gebeutelten Jahr bereits mit Mulan unternommen, mit nur mäßigem Erfolg. In Hollywood spricht man ein wenig martialisch vom Streamingkrieg, dabei gleicht das Ganze einer nicht abreißenden Serie eilfertig durchgeführter Experimente. Die Einnahmenverluste sind herb, Marketingchefs werden reihenweise gefeuert, jedes Studio sitzt auf fertig produziertem Premium-Content – aber wie bekommt man diesen unters Volk?

Zoff bei Warner

Die Berlinale, eines der wichtigsten Filmfestivals, tüftelt gerade daran, den Vertrieb von im Corona-Stau feststeckenden Arbeiten anzukurbeln. Im März wird zwar kein Festival, dafür aber ein Markt ausgerichtet sowie ein Wettbewerb mit internationaler Jury ausgerufen – das würde zumindest den Verkauf von Filmen für heiß ersehnte Post-Corona-Zeiten anregen. Warner hat hingegen mit seiner Entscheidung, 17 Großproduktionen von 2021 (von Tom & Jerry über Godzilla vs. Kong bis Matrix 4) zeitgleich im Kino und auf einen Monat befristet als Stream herauszubringen, die Branche verschreckt – und Alarmisten geweckt. Die sehen wieder einmal den Tod der Kinos voraus.

Auch hauseigene Regisseure wie Christopher Nolan sparten nicht mit geharnischter Kritik – der Tenet-Regisseur bezeichnete HBO Max gar als "schlechtesten Streamingservice". Der Kanadier Denis Villeneuve, der eine spektakuläre Neuverfilmung von Frank Herberts Science-Fiction-Roman Dune in den Startlöchern hat, nannte die Strategie einen "verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen". Er kündigte Warner sogar das Vertrauen auf, das Studio sei keine Heimstatt für Filmschaffende mehr: "Streamings sind eine willkommene Ergänzung, aber sie können die Filmindustrie nicht erhalten. Filme von der Größe von Dune werden in dieser Welt nicht entstehen."

Kino wird groß zurückkommen

Das sind verständliche Reaktionen. Man fühlt sich geprellt und verraten, und ein jeder versucht sein Terrain zu verteidigen. Steven Soderbergh hat bei HBO Max gerade Let Them All Talk mit Meryl Streep veröffentlicht. Im Gespräch mit der Nachrichtenseite The Daily Beast vertritt der wandlungsreiche Regisseur eine konträre Ansicht. Die Schritte von Warner und anderen Studios betrachtet er als pragmatische Reaktionen auf die Aussicht, dass sich die Auswertung im Kino trotz Corona-Impfstoffs nicht so bald normalisieren werde. Danach jedoch sehr wohl: "Zu viele Firmen haben zu viel Geld in das Geschäft mit Filmen investiert, die sich nur im Kino voll entfalten. All das wird zurückkommen."

Was von diesen Experimenten mit Online-Starts auf jeden Fall bleiben wird? Die Verkürzung der Auswertungsfenster. Davon ist auch Soderbergh überzeugt: "Es braucht eine größere Flexibilität." Wenn Kinobesitzer in Zukunft nach einem Freitagstart erkennen, dass der Film nicht genug Publikum generiert, könnten sie die Arbeit viel schneller wieder los sein. Ab in die nächste Auswertungsebene – das wären dann wohl weniger große Blockbuster als mittlere Produktionen, die dann als Video-on-Demand (VoD) verfügbar werden. Ein Zugang, der auch der immer ausgefeilteren Marktaufteilung in geeignete Zielgruppen entspricht.

Neues Miteinander

Wer jetzt schon weiß, wie dieses Szenario im Detail aussehen wird, der besäße eine prophetische Gabe. Die Financial Times hat es zumindest mit einer Aufstellung möglicher Realitäten versucht. Bei einem kleineren Auswertungsfenster von 17 Tagen im Kino und anschließendem VoD würde das Studio die Hälfte seines Gewinns immer noch durch Kinos generieren – vor der Pandemie war dies noch weit mehr als die Hälfte. Denkbar ist aber auch, dass es zu neuen Kooperationsverträgen mit großen Kinoketten wie AMC kommt. So könnte ein Teil des VoD-Gewinns der Studios später an diese zurückfließen.

Die wahrscheinlichste Variante ist ein hybrides Modell, in dem Blockbuster und Arthouse-Filme, ja sogar prestigeträchtige Netflix-Eigenproduktionen weitaus fluider zwischen physischen und Online-Auswertungen wechseln – mit verwirrend vielen Abo- und Einzelbezahlmodellen.

Ein letztes Lasso hält jedoch die Pandemie selbst in der Hand, die noch den einen oder anderen Mitbewerber zu Fall bringen könnte – bevor die neue Wirklichkeit eintritt. (Dominik Kamalzadeh, 19.12.2020)