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In Stanley Kubricks "2001 – Odyssee im Weltraum" hat Supercomputer HAL das Sagen. Science Fiction übersetzt seit jeher auch aktuelle wissenschaftliche Diskurse.

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Irgendwo in einem intergalaktischen Imperium will Breq die Herrschaft der Radchaai brechen. Breq, die Ich-Erzählerin von Ann Leckies preisgekrönter "Die Maschinen"-Trilogie, ist die einzige Überlebende einer Schwarmintelligenz, die sich einst in Form eines Raumschiffes manifestiert hat. Aber nicht nur das: Das kollektive "Ich"-Bewusstsein der künstlichen Intelligenzen umfasst gleichzeitig ein Raumschiff und all seine mobilen Hilfseinheiten – an sich tote Menschen so wie Breq, die, miteinander verlinkt und einer Computeridentität einverleibt wurden.

Dazu kommt, dass das Raadchai-Universum kein Geschlecht kennt. Für alle Figuren des Romans wird durchgängig die weibliche Form verwendet. "Hier werden viele Fragen verhandelt, etwa: Wie konstituiert sich Identität? Wie wird aus dem Wir ein Ich?", sagt Roland Innerhofer. "Das Konzept der Mehrfachidentitäten, das in vielen Science-Fiction-Romanen auch als Befreiung aus den engen Grenzen des Ich-Bewusstseins dargestellt wird, konterkariert die Vorstellungen aus der Hochmoderne, die die Auflösung des Ich als traurige Geschichte empfinden."

Die Überwindung der Eintönigkeit

Roland Innerhofer vom Institut für Germanistik der Universität Wien beschäftigt sich schon viele Jahre mit Science-Fiction-Literatur. Vor kurzem hat er bei einer Tagung am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien unter dem Titel "Das Ende der Eintönigkeit" darüber gesprochen, wie die Science Fiction das Leben nach dem Menschen erzählt. Das Motiv der kollektiven Intelligenz ist nur eine Spielart bei der Überwindung der menschlichen Monotonie, eines "humanen Universalismus, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt", wie Innerhofer sagt.

Von Anfang an stark in der Science Fiction vertreten sieht Innerhofer das antagonistische Modell, in dem verschiedene Lebensformen in Konkurrenz zueinander stehen. In Bruce Sterlings "Schismatrix" (1985) zum Beispiel kämpfen durch elektronische Prothesen beziehungsweise durch Biotechnik und genetische Veränderung verbesserte Wesen gegeneinander. Der Transhumanismus, ein weiterhin anthropozentrisches Konzept, bei dem es um die technischen Optimierung des Menschen geht, lässt grüßen.

Posthumanes Kaleidoskop

Der Posthumanismus hingegen lässt die menschliche Komponente hinter sich und setzt ganz und gar auf künstliche und hybride Lebensformen abseits herkömmlicher Identitäten. Innerhofer nennt das die Emanzipation der künstlichen Menschen. In der Biopunk-Saga "The Windup Girl" (2009, auf Deutsch "Biokrieg") von Paolo Bacigalupi etwa bricht die künstlich gezüchtete Sex-Dienstleisterin Emiko aus einem Bordell aus, um sich mit einem Programmierer zusammenzutun und eine neue Spezies zu schaffen. Nebenbei werden hier auch gewichtige Themen wie Öko-Kollaps, genetische Manipulation von Pflanzen und Epidemien abgehandelt. Auch Rudy Ruckers Ware-Tetralogie ist ein Beispiel für die komplette Verschmelzung von Körper, Geschlecht, Organischem und Synthetischem zu neuen, unbegrenzt wandlungsfähigen Lebensformen.

Eine besondere Kategorie stellen laut Innerhofer Romane dar, die eine Vermischung von artifiziellen, organischen und anorganischen Lebensformen imaginieren. In Dietmar Daths "Die Abschaffung der Arten" (2008) etwa wurden die Menschen durch gesteuerte Evolution von einer tierischen Art mit speziellen Kommunikationsfähigkeiten verdrängt, die ihr Erbgut nach Belieben modifizieren und ihre Gestalt ändern können.

Eine optische Illusion

"Dieses bioinformatische Modell der Evolution mit automatisierten Schlussfolgerungen, das hier vorgestellt wird, ist ein Spiegel der Entwicklungen, die schon heute auf dem Gebiet der Gentechnik und künstlichen Intelligenz vorangetrieben werden", sagt Innerhofer. Schließlich handelt Science Fiction seit jeher von der Welt, in der sie entstanden ist.

"Die Grenze zwischen Science Fiction und sozialer Realität ist eine optische Illusion", schrieb schon Donna Harraway in ihrem "Cyborg Manifesto" (1985). "Die Gegenwart wird in die Zukunft projiziert, Elemente der gegenwärtigen Lebenswelt aufgegriffen, neu verteilt und montiert", sagt Innerhofer. "Damit ist das Feld eröffnet, jegliche Gedankenexperimente durchzuspielen."

Für den Professor für Neuere deutsche Literatur ist Science Fiction aber auch ein Mittel zur Übersetzung von aktuellen wissenschaftlichen und technischen Diskursen und Theorien. "Science Fiction erprobt das Unbegreifliche, lotet die Grenzen des Denkbaren aus." Science Fiction müsse dabei nicht dem Anspruch gerecht werden, wissenschaftlich hieb- und stichfest korrekt zu sein, es gehe vielmehr darum, Wissen mit genuin literarischen Mitteln über sprachliche Bilder und Figuren in Szene zu setzen.

Inspiration für die Wissenschaft

So könne ein Fantasie-Spielraum entstehen, der auch auf die Wissenschaft zurückwirkt. "Es ist spannend, wie viele Spitzenforscher, Raumfahrt- und Computerpioniere sich zum Beispiel darauf berufen, dass Stanley Kubricks Film "2001 – Odyssee im Weltraum" (1968) sie als Jugendliche dazu inspiriert hat, eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen", berichtet Innerhofer von einer früheren Studie.

Dabei wird die klassische "harte" Science Fiction zunehmend zur Ausnahmeerscheinung, meint Innerhofer, während der Bereich der Social Fantasy immer breiter wird: Ob künstliche Intelligenz, Gentechnik, Biodiversität, Identitäts- und Geschlechterpolitik oder Fragen des Zusammenlebens: Die Science Fiction zeigt auf, welche Gestaltungsmöglichkeiten sich aus dem Jetzt ergeben – und dass es auch ohne den Menschen als vorherrschende Lebensform alles andere als eintönig sein kann. (Karin Krichmayr, 30.12.2020)