Carmen Possnig verbrachte ein Jahr auf der Südpolstation Concordia, die sich auf diesem Foto in ihrer Schneebrille spiegelt.
Foto: PNRA & IPEV / Marco Buttu

Es war eine stressige Novembernacht in einem Kreißsaal eines Wiener Krankenhauses, in der die angehende Medizinerin Carmen Possnig die E-Mails-App auf ihrem Smartphone öffnete. Völlig übermüdet warf sie einen kurzen Blick auf die zuletzt eingelangten Nachrichten. Darunter war eine Jobausschreibung der Europäischen Weltraumorganisation Esa: "Sie wollen ein Jahr lang in völliger Isolation für die Esa forschen?" Carmen Possnig war hellwach und musste keine Sekunde lang überlegen, ob sie sich als Forschungsärztin für die Südpolsstation Concordia bewerben soll. Natürlich! Schon als Jugendliche hatte sie davon geträumt, einmal die Antarktis zu bereisen. Dazu kam ihre unerschütterliche Begeisterung "für alles, was die Menschheit dem Mars näher bringt".

Ein halbes Jahr und ein aufwendiges Bewerbungsverfahren später erfuhr Possnig im Mai 2017, dass sie als Forschungsärztin für die nächste Überwinterung auf der Forschungsstation Concordia ausgewählt worden war. Ihre Aufgabe war es, eine Reihe an medizinischen Experimenten an ihren zwölf Expeditionskollegen und sich selbst durchzuführen. Im Zentrum der Studien stand die Frage, wie sich der menschliche Körper an die extremen Bedingungen am Südpol anpasst: Temperaturen von bis zu minus 80 Grad Celsius, monatelange Dunkelheit und völlige Isolation vom Rest der Welt. Dazu kommen auf Concordia die Höhe und der damit einhergehende niedrige Luftdruck und Sauerstoffgehalt: Die Station liegt auf 3233 Metern über Meereshöhe. Doch da die Atmosphäre an den Polen dünner ist, entspricht das etwa 3800 Metern in europäischen Breiten. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist um ein Drittel niedriger als auf Meereshöhe.

Im November 2017 begann schließlich die einjährige Expedition, ihre Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin konnte Possnig davor gerade noch abschließen und eilte vom letzten Nachtdienst zum Flughafen. Bereits während ihres Aufenthalts in der Antarktis begann sie ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben. Vor einigen Wochen ist es im Ludwig-Verlag unter dem Titel "Südlich vom Ende der Welt: Wo die Nacht 4 Monate dauert und ein warmer Tag minus 50° hat" erschienen.

STANDARD: Während Ihres Aufenthalts in der Antarktis haben Sie erforscht, wie sich der menschliche Körper an die extremen Bedingungen anpasst. Was haben Sie herausgefunden?

Possnig: Ich habe fünf Experimente betreut, die sich mit dem Immunsystem, kognitiven Fähigkeiten, aber auch der psychischen Anpassungsfähigkeit beschäftigt haben. Bei den Studien zum Immunsystem hat sich deutlich gezeigt, wie sehr sich der Körper an die beinahe sterile Umgebung anpasst. In der Mitte der Antarktis ist es zu kalt für Bakterien oder Viren, die uns Menschen gefährlich werden könnten. Zudem waren wir über den Winter neun Monate lang nur 13 Personen. Dementsprechend bekommt das Immunsystem keine neuen Inputs. Durch Blutabnahmen und die Analyse anderer Körperflüssigkeiten konnte ich nachweisen, dass die Aktivität des Immunsystems ziemlich zurückgefahren wird. Wenn es dann aber wieder neue Inputs gibt, kommt es zu einer Überreaktion.

STANDARD: Wie äußert sich diese?

Possnig: Als nach neun Monaten zum ersten Mal wieder ein Flugzeug gelandet ist, hatte einer der neu hinzugekommenen Menschen ein Schnupfenvirus. Bei der Hälfte derjenigen, die in Concordia überwintert haben, kam es darauf zu hohen Fieberschüben über mehrere Tage, weil das Immunsystem auf diesen kleinen Input so extrem reagiert hat.

Carmen Possnig beim Pipettieren in ihrem Labor in Concordia – mit Esa-Maskottchen im Hintergrund.
Foto: ESA / IPEV / PNRA / Carmen Possnig

STANDARD: Sie haben auch untersucht, wie sich die motorischen und kognitiven Fähigkeiten in der Isolation am Südpol verändern – wie sind Sie dabei vorgegangen?

Possnig: Diese Frage ist besonders wichtig, wenn es um Weltraumflüge zum Mars geht. Wir hatten in Concordia einen Raumschiffsimulator. Das Ziel war, mit Joysticks und Monitoren an der Internationalen Raumstation anzudocken. Meine Kollegen waren in verschiedene Gruppen eingeteilt, manche haben das öfter trainiert, andere seltener. In Verbindung mit kognitiven Tests wollten wir herausfinden, wie sich Motorik und Kognition währen der Isolation verändern. Zusätzlich gab es Kontrollgruppen in Stuttgart und an einer Südpolstation an der Küste auf Meereshöhe.

STANDARD: Wer hat am besten abgeschnitten?

Possnig: Die Gruppe in Stuttgart. Die Gruppe an der antarktischen Küste war deutlich schlechter, und die Concordia-Gruppe am schlechtesten. Der niedrige Sauerstoffgehalt wirkt sich sehr negativ auf kognitive Fähigkeiten aus. Das ist eine wichtige Erkenntnis für lange Weltraumflüge: In der Theorie wäre es gut, den Sauerstoffgehalt im Raumschiff etwas abzusenken – man muss weniger Sauerstoff produzieren, und die Brandgefahr wird verringert. Aber was die kognitiven Fähigkeiten der Astronauten angeht, ist ein niedriger Sauerstoffgehalt eindeutig ein Nachteil.

Die extreme Kälte am Südpol ist nur schwer vorstellbar. Ein vereistes Honigbrot macht sie anschaulicher.
Foto: IPEV / PNRA / ESA / Carmen Possnig & Cyprien Verseux

STANDARD: Was war für Sie persönlich die überraschendste Erfahrung?

Possnig: Ich hätte gedacht, dass ich mehr darunter leiden würde, die Sonne so lange nicht zu sehen. Doch in der Antarktis hat man diesen wunderschönen Sternenhimmel. Der hat mich immer wieder daran erinnert, dass die Expedition eine gute Entscheidung war.

STANDARD: Gewöhnt man sich eigentlich irgendwann an die extreme Kälte?

Possnig: Es gibt schon einen psychologischen Gewöhnungseffekt an die Kälte. Im Sommer war das Wärmste minus 24 Grad Celsius. Wenn es das erste Mal auf minus 60 Grad hinuntergeht, ist das schon arg und extrem. Im Frühling, wenn es nicht mehr minus 80 Grad hat, hatten wir das Gefühl, dass es wieder warm ist. In dieser Zeit passieren die meisten Erfrierungen, weil man nicht mehr so gut aufpasst.

Der prächtige Sternenhimmel über den beiden Türme der Concordia-Station.
Foto: PNRA & IPEV / Marco Buttu

STANDARD: Sie arbeiten nun an einer Dissertation an der Uni Innsbruck. Worum geht es darin?

Possnig: Wir planen Bettruhestudien, bei denen Menschen Tage bis Monate liegend verbringen. Dadurch kommt es im Körper zu ähnlichen Veränderungen wie in der Schwerelosigkeit. Die Ergebnisse sind relevant für Weltraumflüge, aber auch für Menschen, die ans Bett gebunden sind. Wir wollen Maßnahmen finden, um den Abbau kognitiver und körperlicher Fähigkeiten aufzuhalten. (Tanja Traxler, 25.12.2020)