Illustrierte Kronen Zeitung vom 23. Dezember 1905

Die Tat eines Irrsinnigen
Der Ueberfall mit zwei Fleischermessern

Im Hause Ottakring, Brestelgasse 10, bewohnt der 40jährige Selchergehilfe Oswald Tentschert, zu Hotzenplotz geboren, mit seiner 37jährigen Gattin Karoline ein kleines Kabinett. Bei dem Ehepaare wohnt
Tentscherts Bruder, der unverheiratete 34jährige Gustav Tentschert, der ebenfalls Selchergehilfe ist. Das Kabinett ist im ersten Stockwerke gelegen. Gestern um zirka halb 1 Uhr nachts hörten die Nachbarn aus der
Wohnung Tentscherts einen furchtbaren Lärm. Weinen, Schreien, Fluchen tönten durcheinander — und dann wurde es plötzlich still und nur ein dumpfes Röcheln klang aus dem engen Raume.

Die Tat.

Das ganze Haus war in Aufruhr. Im Nachtgewande eilten die Parteien auf die Gänge und einige Beherzte drangen in die Wohnung Tentscherts. Ein unbeschreiblich grauenhafter Anblick bot sich ihnen im flackernden Lichte einer Lampe dar. Im Kabinett troff alles von Blut und Tentschert und seine
Frau lagen blutüberströmt in den Betten. Der Bruder Tentscherts blutete auch aus einer Wunde am Bein und er konnte, während man um ärztliche
Hilfe schickte, in fliegenden Worten erzählen, was sich abgespielt: Tentschert hatte sich bald nach Mitternacht von seinem Lager erhoben und sich mit zwei Fleischermessern bewaffnet. Mit diesen stürzte er
sich plötzlich ohne jeden unmittelbaren Anlaß auf seine Frau und stach blindlings auf die Unglückliche ein. Vergebens versuchte sie, zu entfliehen — und bald blutete sie aus sieben schweren Wunden an der Brust und am Unterleibe. Als der Bruder des Wahnwitzigen ihn abhalten wollte, wendete sich dieser auch gegen ihn und brachte ihm einen Stich im Bein bei. Gustav Tentschert wurde zum Glück bloß leicht verletzt. Nun
richtete Tentschert die Messer gegen sich. In blindem Wüten stach er gegen den eigenen Leib, bis er, aus zahlreichen Wunden in der Brust und in der Herzgegend blutend, lebensgefährlich verletzt zusammenbrach. Mittlerweile war die Freiwillige Feuerwehr Neulerchenfeld mit einer Ambulanz vorgefahren. Ihre Funktionäre verbanden das Ehepaar und brachten beide ins Stephaniespital. Oswald Tentschert ist so schwer verletzt, daß er kaum mit dem Leben davonkommen dürfte. Auch seine Gattin ist in Lebensgefahr.
Oswald Tentschert hat die Tat wahrscheinlich im Zustande geistiger Störung verübt. Er befand sich schon einmal in psychiatrischer Beobachtung. Vor Ausführung der Tat hat man deutlich Anzeichen des wiedererwachenden Wahnsinns an ihm wahrgenommen.

Die Auffindung des Ehepaares Tentschert.
Foto: ANNO | Österreichische Nationalbibliothek

Der Schlaf ist das halbe Leben.

Tentschert war seit Monaten kopfleidend. Er litt auch an Schlaflosigkeit, die ihm seine Tage verbitterte. Zudem hatte er keine Arbeit. „Der Schlaf," war seine Redensart, „ist das halbe Leben!" Frau Karoline Tentschert wohnte nicht ständig in der Wohnung des Gatten. Sie war Verkäuferin in einem Geschäfte in der Turnergasse in Fünfhaus, ging früh ins Geschäft und kam erst spät abends aus demselben. Da der Weg weit ist, nahm sie dort auch gleich Wohnung. Ihr Gatte sah sie nur einmal in der Woche, denn nur einmal blieb sie in der eigenen Wohnung, diese rein zu machen. Rabiat oder gewalttätig war Tentschert bisher nicht. Allerdings hat er sich schon vor einiger Zeit so benommen, daß, wie erwähnt, seine irrenärztliche Beobachtung notwendig erschien, doch war er nach wenigen Tagen schon aus der psychiatrischen Behandlung entlassen worden

Vorgestern nachmittags kam er nun in das Geschäft zu seiner Frau und bat sie, sie solle ausnahmsweise nach Hause zurückkehren. Dann fügte er die der Frau unverständliche Aeußerung hinzu: Die Sache müsse einmal ein Ende nehmen, so geht es nicht weiter. Hierauf entfernte er sich; die Frau dachte nach, worauf sich diese dunkle Aeußerung beziehen könnte. Doch sie kam zu keinem Schluß und hatte nur das peinliche Gefühl künftiger unangenehmer Ereignisse.
Frau Tentschert kehrte um halb 11 Uhr aus dem Geschäfte zurück. Der Gatte empfing sie schweigsam. Es wurde auch dann wenig gesprochen. Was nun weiter vorgegangen, ist nicht ganz aufgeklärt, da man die so schwer verletzte Frau nicht verhören kann. Sie sagst nur, daß Tentschert im Bette wieder über Schlaflosigkeit klagte und die oft gehörte Redensart vorgebracht habe: „Der Schlaf ist das halbe Leben". Unwillkürlich habe die Frau bei dieser Bemerkung gelächelt und daraufhin sprang der Mann auf und versetzte ihr den ersten Stich, und als sie auch aus dem Bette sprang
und schrie, versetzte er ihr die weiteren Stiche und wendete sich dann gegen den Bruder, der die Schwägerin beschützen wollte.
Die Tat scheint doch vorbereitet gewesen zu sein, da Tentschert die beiden Fleischermesser mit in das Bett genommen hat.

Gestern nachmittags ist Tentschert von der Filiale Mariahilf der Freiwilligen Rettungsgesellschaft aus dem Stephanie-Spital ins Inquisitenspital des Landesgerichtes gebracht worden.
Der Fachverein der christlichen Selchergehilfen teilt uns mit, daß er Tentschert, der mehrere Monate arbeitslos war, erst jetzt 20 Kronen Weihnachtsunterstützung gegeben, daß er jedoch das Geld größtenteils im Vereinsgasthaus vertrunken hat und erst um Mitternacht heimgekehrt ist.

Figaro vom 23. Dezember 1905

Madame Mayer
über die Stellung der Frau im modernen Staate

O du mei! - O du mei!
Wo soll denn das um Himmelswillen hinführen, wenn unsere Frauenzimmer fortfahren, ihre eigenen Wege, oder besser g'sagt, Abwege z' geh'n? Diese beständigen Frauenversammlungen - ich ich das Wort nur hör', hab' ich schon g'speist - müaß'n ja zum sichern, völligen Ruin führ'n.
Du lieber Himmel! Was soll'n und können denn die Frauen allein mit ihresgleichen anfang'n? Früher amal war die einzige 'Frauenversammlung', die's geben hat, die Mädchenschul' und wenn d' Madeln aus der herauskommen san, hat's die Mutter in die Arbeit g'nommen und hat's auf ihren künftig'n Beruf, den heiligen Ehestand entsprechend vorbereitet. - Wenn's nachdem nebstbei in die Nähschul' gang'n san, hat s' meistens vor und nach der Stund' schon irgend a junger Mann erwart' - na ja, mein Gott und Herr, so hat sich die notwendige - natürlich vollkommen ehrbare - Annäherung der Geschlechter vollzogen. - Das war vernünftig und naturgemäß!

Heutzutag' schieß'n an allen Ecken und Enden die Frauenorganisationen aus'n Erdboden heraus. Die Frauenzimmer hab'n alle irgend an selbständigen Beruf und streb'n die Verbesserung ihrer Lage an. - Könnt' ihnen ja kein Mensch verübeln, wenn die G'schicht' nur net so traurige soziale Folgen hätt. - Die Männer, die kan recht'n Porsten mehr krieg'n, weil ihnen die Weiber 's Brot wegnehmen, können net heirat'n, und die Frauenzimmer in allen staatlich'n und kommunalen Betrieb'n in Amt und Schule werd'n entlass'n - wenn's heirat'n. - Jetzt frag i an denkenden Menschen, wo das hinführ'n soll! - Wenn die Frau'nzimmer schon überall dort ang'stellt werd'n, wo Mannsbilder hing'hör'n, so sollten s' halt auch vollständig gleichwertig ang'stellt werd'n, mit demselb'n Gehalt, mit Pensionsansprüchen und ohne entlass'n werden zu können, wenn's der Stimme ihres Herzens Gehör schenk'n wollt'n.
Nachdem wär's ja ganz egal und wenn a braves Madel den nötigen Familiensinn hätt', möcht' halt sie sich an eigenen Herd gründ'n und irgend an anständig'n, alleinstehenden, unverdorbenen, jungen Mann glücklich mach'n und versorg'n. - Aber so lang das net geregelt is, geh'n wir aner Zeit schrecklicher Verirrung und Verwirrung entgegen.

A wengel a Lichtblick is wohl die Einführung von ganz eigenen Kochkursen, von denen ich die Tag g'lesen hab', wo nämli a jedes Töchterl das, was es selber kocht hat, auch selber essen muß. - Wenn die Bestimmung auch, b'sonders für'n Anfang, recht hart g'nannt werden muß, so dürft's doch das beste Mittel sein, den Maderln bald die schöne und praktische Kunst des Kochens beizubringen und wenn nachdem noch öffentliche Produktionen, natürlich mit Hinzuziehung von männlichen Gliedern der Gesellschaft veranstaltet und Kostproben an heiratslustige Männer abgegeb'n werd'n möchten, so könnt' die segensreiche Einrichtung vielleicht wirkli zum Ausgangspunkt neuer, besserer, dauernder Verhältnisse im doppelten Sinne des Wortes werd'n, denn der Weg zum Herzen führt ja immer noch durch den Magen - das sag' ich - die 
Kreszentia Mayer
bürgerliche Geburtshelferin, IX. Alserstraße, links.

Berliner Leben, Heft 12 - 1905

Das "Orchestrophon" in der Familie 

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(Kurt Tutschek, 23.12.2020)

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