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Der britische Chefverhandler David Frost am Samstag auf dem Weg zu den Brexit-Gesprächen in Brüssel.

Foto: AP / Virginia Mayo

London – In den stockenden Brexit-Verhandlungen droht die britische Regierung einem Insider zufolge kurz vor dem Fristende der Europäischen Union (EU) mit einem harten Bruch. Es werde kein Handelsabkommen geben, sollte die EU nicht ihre Position deutlich ändern, verlautete am Samstagabend aus britischen Regierungskreisen. Die Forderungen der Europäischen Union seien mit der Unabhängigkeit Großbritanniens nicht vereinbar. Zum Jahresende könnte somit ein harter Brexit bevorstehen.

No Deal "am wahrscheinlichsten"

Unter Hochdruck verhandeln Großbritannien und die EU weiter über einen Brexit-Handelspakt. Die Gespräche bleiben aber schwierig, wie aus Verhandlungskreisen am Samstagabend zu hören war. "Das wahrscheinlichste Ergebnis" sei derzeit ein No Deal, hieß es. "Wir werden jeden Stein umdrehen, um einen Deal zustande zubringen." Es gebe aber weiter "erhebliche offene Fragen" zu Fischerei und Subventionen. "Die Verhandlungen gehen weiter, aber wir sind immer noch weit auseinander."

Es gebe immer noch keine Annäherung im Streit um die Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern. Beim Streitthema Fischerei steckten die Verhandlungen auch nach einer weiteren Verhandlungsrunde in Brüssel fest, sagte ein EU-Diplomat am Samstagabend. Es gebe immer noch "dieselben Meinungsverschiedenheiten", sagte ein anderer Diplomat.

Streitpunkt Fischerei

Die EU hat Großbritannien nach Diplomatenangaben inzwischen ein letztes Angebot in der Fischerei-Frage unterbreitet. Darüber müsse letztlich der britische Premierminister Boris Johnson entscheiden. Wenn Großbritannien das Angebot ablehne, "bekommen wir einen 'No Deal' wegen Fisch", sagte ein Diplomat.

Der Druck ist groß, denn das Europaparlament hat eine letzte Frist bis zum späten Sonntagabend gesetzt. Bis dahin müsse ein fertiger Handelsvertrag vorliegen, weil die Abgeordneten sonst nicht mehr ausreichend Zeit zur Prüfung hätten. EU-Unterhändler Michel Barnier warnte am Freitag, es blieben nur noch "wenige Stunden" für eine Einigung. Allerdings hatten die Unterhändler bereits zuvor mehrere Fristen gerissen. Zuletzt hieß es vor allem in London, der einzige Stichtag sei der 31. Dezember. Premierminister Boris Johnson hat sich wiederholt skeptisch geäußert, dass sich beide Seiten noch einigen.

Angebot der EU

Beobachter der zähen Verhandlungen berichteten auf Twitter, dass die EU beim strittigen Thema Fischerei einen Schritt auf London zu machen könnte. Demnach soll Barnier angeboten haben, dass die Gemeinschaft den Briten 25 Prozent des Werts der Fische, die EU-Fischer in britischen Gewässern fangen, zurückzahlen würde. Das wäre deutlich mehr, als bisher im Gespräch ist – aber bei weitem nicht so viel, wie London fordert. Eine europäische Fischervereinigung warnte daraufhin, die EU dürfe die Branche nicht hintergehen.

Beide Seiten rüsten sich auch für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern und vom 1. Jänner 2021 an Zölle und andere Handelshemmnisse zwischen Großbritannien und der EU in Kraft treten. Dann endet eine Übergangsphase. Großbritannien ist zwar bereits Ende Jänner aus der EU ausgetreten, scheidet aber erst zum Jahresende aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion aus.

Schlecht vorbereitet

Die britische Regierung sei allerdings schlecht vorbereitet, kritisierte der Brexit-Ausschuss des Parlaments in London. Entscheidungen seien "zu spät" getroffen worden, die Kommunikation mit Unternehmen sei "bestenfalls lückenhaft", hieß es in einem am Samstag in London veröffentlichten Bericht. Die Polizei könne gezwungen sein, "langsamere und umständlichere" Systeme zu verwenden – so sei "unwahrscheinlich", dass ein Abkommen, das den Europäischen Haftbefehl ersetze, rechtzeitig vorliege.

Am Freitag hatte das Europaparlament für Notfallmaßnahmen im Falle eines No-Deal-Brexits gestimmt. Dabei geht es um Pläne für die Bereiche Fischerei, Flugsicherheit sowie Flug- und Straßenverkehr. Der britische Industrieverband CBI forderte mit Nachdruck beide Seiten zur Einigung auf. Ein Abkommen werde die wirtschaftlichen Aussichten in ganz Europa enorm verbessern. "Mutige Schritte" seien nun notwendig.

Staus auf Autobahnen und im Eurotunnel

Auf den Autobahnen in Richtung des wichtigen Hafens Dover am Ärmelkanal sowie des Eurotunnels stauten sich auch am Samstag Lastwagen kilometerweit. Gründe sind das Weihnachtsgeschäft und der hohe Bedarf an medizinischen Gütern in der Corona-Pandemie, aber auch die Aufstockung vieler Lager vor Ende der Brexit-Übergangsphase. Schon seit Wochen kritisieren Handelsverbände verstopfte Häfen und hohe Frachtpreise. In einigen Häfen wurden bereits Schiffe abgewiesen, weil kein Platz war, um Fracht zu löschen.

Großbritannien war Ende Jänner offiziell aus der EU ausgetreten, der es seit 1973 angehört hatte. Am 31. Dezember endet die Übergangsphase, in der das Königreich noch EU-Regeln anwenden muss. Danach droht ohne ein Handelsabkommen Chaos. Experten rechnen dann mit höheren Zöllen auf viele Produkte sowie langen Wartezeiten an der Grenze. Zu den größten Streitpunkten gehören die künftigen Fischfangquoten in britischen Gewässern, was vor allem für Frankreich wichtig ist. (APA, dpa, Reuters, 19.12.2020)