Kein klassischer Bibelstreifen: Milo Rau verschneidet in seinem Film Bibelexegese mit Filmhistorie und Sozialpolitik.

Foto: Fruitmarket / Armin Smailovic

Kunst muss gesellschaftsverändernd wirken. Das ist die Devise von Milo Rau. Der Schweizer Regisseur und Theaterleiter in Gent will mit jeder seiner Inszenierungen in die Realität eingreifen. Er will "echte" Spuren hinterlassen, in Systeme intervenieren anstatt sich in geschützten Räumen des Kulturbetriebs gegenseitig etwas vorzuspielen. Sein Label heißt "International Institute of Political Murder". Dabei gehen Kunst und Aktivismus stets Hand in Hand. Wie etwa im Stück Kongo Tribunal (Rohstoffkrieg) oder in Orest in Mossul, das das antike Rachedrama Aischylos’ mit dem IS-Terror kurzschließt – die Inszenierung war 2019 bei den Wiener Festwochen zu sehen.

Dasselbe hat Rau mit dem Film Das Neue Evangelium versucht, der nun vorgezogen auf der Webplattform Vimeo gestartet ist. Mit dem Ticketkauf werden übrigens auch Kinos unterstützt.

Port au Prince Films

Das Neue Evangelium ist erwartungsgemäß kein klassischer Bibelstreifen geworden, sondern ein semidokumentarischer, sein Making-of mitinszenierender und diverse reflektierende Ebenen ineinanderschiebender Film: Bibelexegese, Filmhistorie, Migrations- und Sozialpolitik finden zueinander.

Unmittelbare Gegenwart

Rau saugt wie ein Staubsauger die unmittelbare Gegenwart des Drehorts im süditalienischen Matera ein, an dem sich vor allem zwei Konfliktlandschaften überlagern: Bibelfilmschauplatz (Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson drehten hier) und Tomatenfelder. Milo Rau überblendet die Passionsgeschichte Jesu – dessen Auslieferung, Verurteilung durch die Meute und Kreuzigung – mit dem sozialpolitischen Kampf, den die in die Illegalität gedrängten und folglich auf den Plantagen der Basilikata ausgebeuteten afrikanischen Migranten (von der Weltöffentlichkeit ungehört) führen. Folgerichtig ist der Darsteller des Jesu ein in Kamerun geborener Aktivist, der heute in der italienischen Gewerkschaft tätig ist. Er heißt Yvan Sagnet.

Die ganze Jesus-Truppe ist schwarz, auch Regionalpolitiker, Passanten, Touristen (Europäische Kulturhauptstadt 2019!) und Bauern der Gegend spielen mit. Der Dreh des Films wird stetig mitdokumentiert, sodass ohne Umschweife zwischen Bibelmomenten und zeitgenössischem Befreiungskampf ("Rivolta della Dignità") gewechselt wird.

Fragwürdige Verbindungslinien

Auch der Filmgeschichte erweist Rau die Reverenz, indem er Schauspieler und Laien castet, die hier bereits in berühmten Bibelfilmen gespielt haben. Der kürzlich verstorbene spanische Schauspieler Enrique Irazoqui etwa, der in Pasolinis Das 1. Evangelium – Matthäus anno 1964 Jesus war, kehrt hier in seiner letzten Filmrolle als Johannes der Täufer wieder. Auch Mel Gibsons Die Passion Christi (2004) wurde in der Unesco-Welterbe-Stadt gedreht.

Die Idee, die Jesusgeschichte auf heutige Sozialrevolutionäre umzumünzen, bleibt allerdings immer etwas unscharf. Wo genau liegen die Verbindungslinien zwischen einem jüdischen Wanderprediger samt seiner Opferung und einem Anführer im Kampf gegen die von der Mafia kontrollierte Sklavenarbeit? Dieses Narrativ bleibt großteils fragwürdig.

Fragwürdige Mittel

Auch ist nicht jedes Mittel recht: Eine der problematischsten Szenen ist die beim Casting in einer Kirche. Ein hochmotivierter Laienschauspieler spricht für eine "böse" Rolle vor und gibt dann eine drastische rassistische Showeinlage (Affenlaute etc.), in der er auf einen schwarzen Sessel einschlägt.

Solcherart enthemmte Darstellungen führen ihr explosives Eigenleben und tun leider nichts zu Sache. Sie tragen Rassismus allerdings weiter, indem sie ihn exzessiv abbilden. Milo Rau sucht eben immer die Grenze, aber oft erkennt er sie nicht. (Margarete Affenzeller, 21.12.2020)