Das Flüchtlingslager Kara Tepe im Dezember. Die ÖVP will keine Kinder in Österreich aufnehmen, sondern stattdessen Tagesbetreuung für Kinder im Lager finanzieren.

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Diese Verlogenheit balanciert an der Schmerzgrenze. Innenminister Karl Nehammer und Außenminister Alexander Schallenberg betonen beide, dass sie auch Väter seien. Dass es sie nicht kaltlässt, was im Flüchtlingslager Kara Tepe passiert. Kinder, die von Ratten gebissen werden, im Dreck liegen, frieren, krank werden, in nassen Zelten schlafen, die an den Rand des Erträglichen getrieben werden – und darüber hinaus. Aber sie sollen dortbleiben, sind sich Schallenberg und Nehammer einig. Dafür wollen die ÖVP-Minister eine Tagesbetreuung für Kinder im Lager finanzieren.

Vielleicht schämt sich Schallenberg für dieses PR-Projekt, das er im Auftrag des Kanzlers in der Öffentlichkeit anpreisen muss. Man merkt es ihm nicht an. Der Alltag im Lager soll jetzt "kindgerechter" gestaltet werden. Echt jetzt? Das versteht die ÖVP unter einem kindgerechten Alltag? Und das traut sich jemand zu sagen? Tiefes Durchatmen.

Offenbar sehen das viele in Österreich und auch in der Volkspartei anders. Dass man helfen müsse – und könne. In diesem konkreten Fall. Dass man nicht die Augen verschließen dürfe, wenn das Elend so deutlich sichtbar wird.

Europa duldet diese Zustände, es gibt Kritiker, die behaupten, die EU hätte sich das bei den Griechen so bestellt – um eine abschreckende Wirkung auf jene Menschen zu erzielen, die irgendwo in ihren Heimatländern auf dem Sprung sind.

Bewusstes Spiel mit dem Elend der Menschen

Eine solche EU, die bewusst mit dem Elend dieser Menschen spielt, die es zulässt, dass eine wirklich große Zahl an Kindern unter grauenhaften Umständen heranwachsen muss, kann man nicht wollen. Das verträgt sich nicht mit der Würde jener Menschen, die im Lager dahinvegetieren, und das verträgt sich auch nicht mit der Würde jener, die dabei zuschauen.

Es geht jetzt nicht um einen Verteilungsschlüssel, um ein Präjudiz, um eine politische Weichenstellung. Es geht darum, konkret und akut Hilfe zu leisten – und die Kinder (ihre Eltern übrigens auch) aus dieser Situation herauszuholen. In diesem Fall. Es gibt hunderte, vielleicht tausende Menschen in Österreich, Bürgermeister und Kirchengemeinden, Private und Organisationen, die Hilfe angeboten haben und Familien aufnehmen möchten.

Sebastian Kurz hingegen bleibt allen Appellen zum Trotz seiner politischen Agenda treu: Härte zeigen. Damit hat er doch Wahlen gewonnen.

Kein gottgewolltes Elend

Jetzt ist Weihnachten. Ganz unsentimental: Es kann doch nicht sein, dass die ÖVP Gebetskreise veranstaltet, Barmherzigkeit und Nächstenliebe predigt – und so tut, als sei das Elend dieser Kinder gottgewollt. Das ist es eben nicht. Die ÖVP, jener Kreis um Kurz, trägt Mitschuld an diesen Zuständen. Und hätte es in der Hand, sie zu ändern.

Stimmt schon, jede Hilfe ist recht. Dass jetzt aber eine PR-Aktion gestartet wird, mit der eine Kinderbetreuung im Lager als großherzige und fürsorgliche Geste der ÖVP inszeniert wird, ist letztklassig. Es gibt auf Lesbos noch nicht einmal eine behördliche Genehmigung dafür. Es ist der skrupellose Versuch, zu Weihnachten nicht so kaltherzig und rücksichtslos dazustehen.

Wenn Kirche und Kardinal, Grüne und Hilfsorganisationen nichts bewirken können, vielleicht gelingt es jenen Menschen innerhalb der ÖVP, die das nicht mehr aushalten, ein Umdenken bei ihrem Kanzler zu erreichen. Da soll jedes Gebet recht sein. (Michael Völker, 20.12.2020)