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Eine von Sars-CoV-2 übersäte Zelle. Die neue britische Variante könnte das Andocken der Viren an die Zellen erleichtern, was aber noch nicht experimentell bestätigt ist.

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Unmittelbar vor der Entscheidung, wie sich die EU und Großbritannien trennen werden, sorgt eine Hiobsbotschaft von der Insel europaweit für Beunruhigung: In Teilen Englands hat sich eine Variante von Sars-CoV-2 ausgebreitet, die offenbar noch ansteckender ist als die bisher verbreitete Form. Doch wie wissenschaftlich begründet ist die Sorge? Tatsache ist: Eine ganze Menge an Fragen lässt sich bis jetzt nicht eindeutig beantworten. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass die britische Regierung trotz aller Unklarheiten die neue Variante als willkommenen Vorwand genommen hat, um die britischen Lockdown-Maßnahmen zu verschärfen.

Frage: Was ist das Besondere am neuen britischen Virenstamm?

Antwort: Diese neue Variante zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie durch insgesamt 17 Mutationen definiert ist, also besonders viele Veränderungen auf einmal. Von diesen betreffen etwa die Hälfte das sogenannte Spike-Protein, also das Stacheleiweiß auf der Oberfläche des Virus, mit dem es an die menschlichen Zellen andockt. Von diesen Mutationen sind einige für sich genommen schon bekannt, wie etwa N501Y. Veränderungen an diesem Teil der Virusoberfläche können theoretisch dazu führen, dass das Virus infektiöser wird und sich leichter zwischen Menschen ausbreitet. Und das ist auch die Hauptsorge, die mit dem neuen Virenstamm verbunden ist, der unter den Namen B.1.1.7 beziehungsweise VUI-202012/01 firmiert. Letzteres bedeutet "First (dafür steht das 01) Variant Under Investigation" im Dezember 2020.

Frage: Kommen solche Mutationen nicht häufig vor?

Antwort: Ja und nein. Sars-CoV-2 ist ein RNA-Virus, und Mutationen passierten auf ganz natürliche Weise, wenn sich das Virus vermehrt. Im Schnitt gibt es monatlich ein bis zwei Mutationen in seinem Genom. Das ist zum Glück eine geringere Mutationsrate als bei den Influenzaviren. Viele Tausende von Mutationen sind bei Sars-CoV-2 bereits aufgetreten, allein 4.000 im Spike-Protein, aber nur eine sehr kleine Minderheit hat das Virus in nennenswerter Weise verändert. Die bekannteste Mutation nennt sich D614G, auch hier liegt eine Mutation des Spike-Proteins vor. Diese Variante hat sich seit dem Frühjahr weltweit durchgesetzt – vermutlich, weil sie infektiöser ist. Es ist aber nicht bekannt, dass Sars-CoV-2 dadurch gefährlicher oder schwächer geworden ist.

Frage: Wann, wo und wie wurde die neue britische Variante aufgespürt?

Antwort: Sie wurde bereits am 20. September vom Covid-19 Genomics-UK-(COG-UK)-Konsortium entdeckt, das genetische Sequenzierungen von positiven Covid-19 Proben in ganz Großbritannien nach dem Zufallsprinzip vornimmt. Seit seiner Gründung im April 2020 hat das Konsortium bereits 140.000 Virusgenome von mit Covid-19 infizierten Personen sequenziert, also rund sechs Prozent. Auf die Gefahr wurde man erst bei einer Sitzung des Gremiums am 8. Dezember aufmerksam, als sich zeigte, wie schnell die Variante sich in der südenglischen Grafschaft Kent ausgebreitet hatte.

Frage: Wie häufig ist diese Variante mittlerweile?

Antwort: Mit Stand vom 13. Dezember wurden in Großbritannien 1.108 Fälle mit dieser neuen Variante von fast 60 verschiedenen lokalen Behörden in Großbritannien identifiziert. Die wahre Zahl ist viel höher, da ja nur sechs Prozent sequenziert werden. Diese Fälle traten vor allem im Südosten Englands auf, aber es gab in letzter Zeit auch Berichte aus weiter entfernten Gebieten, darunter Wales und Schottland. Laut Nick Loman (Professor für mikrobielle Genomik und Bioinformation an der Uni Birmingham) mache der neue Virusstamm aktuell 20 Prozent der sequenzierten Viren in Norfolk, zehn Prozent in Essex und drei Prozent in Suffolk aus.

Frage: Was könnte zu den Mutationen geführt haben?

Antwort: Auch dazu gibt es einstweilen nur Vermutungen. Prinzipiell entstehen Mutationen, weil sich das Virus in menschliche Zellen einschleust und sich dort auch verändern kann. In Deutschland habe man die in Großbritannien beobachtete Mutation noch nicht beobachtet, sagt Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr in München. "Allerdings untersuchen wir schon seit einiger Zeit Proben von immunsupprimierten Personen mit einer Sars-CoV-2-Infektion. Dabei haben wir – genauso wie andere Forschungsgruppen – mehr genetische Veränderungen in den Viren gefunden als bei Sars-CoV-2-Infektionen von Immungesunden. Es ist daher für mich sehr plausibel, dass eine langandauernde Infektion bei einem Patienten mit reduzierter Immunkompetenz zur Akkumulation von Immune-Escape-Mutationen (Mutationen, die es dem Virus ermöglichen, der Immunantwort zu entkommen, Anm.) führen kann."

Frage: Ist die Infektionsrate der neuen Variante wirklich um 70 Prozent höher, wie der britische Premierminister Boris Johnson sagte?

Antwort: Wissenschaftlich lässt sich das nicht wirklich sagen. Errechnet hat man die höhere Ansteckungsrate aufgrund der höheren Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus in bestimmten Gebieten, wo auch die neue Variante zirkuliert. Das ist vorläufig aber nur eine Korrelation und keine Kausalität, wie Nick Loman erklärt. Sprich: Die höhere Ausbreitungsgeschwindigkeit könnte theoretisch auch mit anderen Faktoren zu tun haben, wie einer zufälligen Häufung von Superspreader-Ereignissen.

Frage: Ist die neue Variante gefährlicher?

Antwort: Das wissen wir noch nicht. Mutationen, die Viren infektiöser machen, machen sie nicht unbedingt gefährlicher. In Großbritannien untersucht man aktuell mit Hochdruck, ob die neue Variante den Schweregrad der Krankheit erhöht oder verringert. Susan Hopkins, medizinische Beraterin von NHS Test and Trace und Public Health England, sagte dazu: "Es gibt derzeit keine Beweise dafür, dass dieser Stamm zu schwereren Erkrankungen führt, obwohl er in einem weiten geografischen Gebiet nachgewiesen wird."

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Foto: Reuters/Niaid

Frage: Werden die Impfstoffe noch funktionieren, wenn sich die Variante ausbreiten und durchsetzen sollte?

Antwort: Die neue Variante weist Mutationen im Spike-Protein auf, gegen das die drei führenden Impfstoffe gerichtet sind. Allerdings produzieren Impfstoffe Antikörper gegen viele Regionen im Spike-Protein, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass eine einzelne Veränderung den Impfstoff weniger wirksam macht. Dies geschieht bei der saisonalen Grippe, die jedes Jahr mutiert, und der Impfstoff wird entsprechend angepasst. Das Sars-CoV-2-Virus mutiert nicht so schnell wie das Grippevirus. Allgemein wird aber davon ausgegangen, dass die zugelassenen Impfungen weiterhin wirken. Jene mRNA-Impfstoffe, die sich bisher in Studien als wirksam erwiesen haben, können zudem bei Bedarf leicht angepasst werden.

Frage: Und was ist mit den PCR-Tests? Könnten sie durch die neue Variante beeinflusst werden?

Antwort: Das ist eine nicht unberechtigte Frage. Eine der Mutationen in der neuen Variante löscht sechs Basen im viralen Genom. Zufälligerweise ist diese Region eines von drei genomischen Zielen, die von einigen PCR-Tests verwendet werden, sodass bei diesen Tests dieser "Kanal" ausfällt, wie Jeffrey Barrett (Sanger Wellcome Institut) erklärt. Die anderen beiden Kanäle sind von der neuen Variante nicht betroffen. Das bedeutet, dass das Virus immer noch nachgewiesen wird.

Frage: Hat sich die britische Variante bereits am Kontinent und in Österreich ausgebreitet?

Antwort: Das könnte gut sein. Der Biophysiker Richard Neher (Uni Basel), der sich seit Mitte Jänner mit der Evolution des Virus beschäftigt und auch an einer entsprechenden Datenbank mitwirkt, geht im Interview mit "Spiegel online" etwas kryptisch davon aus, dass "die neue Variante schon vielerorts zu finden ist". Der deutsche Virologe Christian Drosten sagte im "Deutschlandfunk": "Es (die neue Variante, Anm.) ist schon in Italien, in Holland, in Belgien, in Dänemark, sogar in Australien, warum sollte es nicht in Deutschland sein". In Österreich fehlt der Nachweis, wie Andreas Bergthaler (CeMM der ÖAW) via Twitter bestätigt. Doch in Österreich werden nur bei 0,27 Prozent aller infizierten Personen auch Genomsequenzen des Virus durchgeführt. Sprich: Man hat hier einen weitaus schlechteren Überblick als in Großbritannien, welche Virusvarianten tatsächlich zirkulieren.

Frage: Wie wird weiter geforscht?

Antwort: Einstweilen ist die höhere Infektiosität des Virus eine Hypothese. Es werden in den betroffenen Regionen Englands derzeit epidemiologische Daten erhoben, so Experten der New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group (NERVTAG). Studien in Zellkultur und Tierversuche müssen erst bestätigten, wie sich Viren mit einigen oder allen beobachteten Mutationen verglichen mit anderen Virusisolaten verhalten. Das Problem: In den meisten europäischen Ländern gibt es keine Beobachtungsstellen wie das Covid-19 Genomics Consortium (COG-UK), in dem laufend Virusproben sequenziert werden, um genetische Veränderungen feststellen zu können. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf: "In Deutschland sind die Bemühungen bei den Sars-CoV-2-Sequenzierungen in meinen Augen nicht ausreichend. Großbritannien hat vorgemacht, wie man entsprechende Strukturen aufbauen kann. Das haben wir in Deutschland – aber auch in vielen anderen europäischen Ländern – bisher verpasst." Er ist überzeugt, dass durch die Analyse von Sars-CoV-2-Sequenzen wichtige zusätzliche Informationen gewonnen werden können, etwa neu zirkulierende Varianten.

Frage: Auch aus Südafrika wird von einer neuen Mutation berichtet. Was ist darüber bisher bekannt?

Antwort: Forscher in Südafrika haben bei genetischen Sequenzierungen eine andere Variante als jene in Großbritannien gefunden, die jedoch ebenfalls die N501Y-Mutation im Spike-Protein aufweist. Auch diese soll sich rascher verbreiten. Africa Centres for Disease Control and Prevention zufolge gibt es anekdotische Hinweise darauf, dass diese Variante bei jungen Menschen schwerere Verläufe verursachen könnte. Mit ausreichend Daten nachgewiesen ist dies aber nicht. Möglicherweise sind mehr Junge betroffen, weil sich durch die neue Variante insgesamt mehr Menschen infizieren. Zudem könnten Superspreading-Events bei landesweiten Examensfeiern, die kürzlich stattgefunden haben, ein Grund sein. (Klaus Taschwer, Bernadette Redl, Karin Pollack 21.12.2020)