Erfolg ist subjektiv, Misserfolg ebenso. Das gilt in diesen Tagen umso mehr: Für viele ist das größte Spiel des Jahres zugleich die größte Enttäuschung 2020, denn wer mit Cyberpunk 2077 auf PS4 entspannte Lockdown-Weihnachtsferien genießen wollte, hegt vermutlich bitteren Groll gegenüber CD Projekt Reds inoffiziellem Early-Access-Blockbuster. Allen Katastrophenmeldungen aus Night City zum Trotz gilt aber, dass es durchaus noch größere Enttäuschungen gegeben hat in diesem Jahr: Immerhin gibt es ja durchaus Menschen, die mit dem meistgehypten Spiel des Jahres großen Spaß hatten.
Die folgenden prominenten Bruchlandungen des Jahres hingegen haben wohl eher Nettofrust in den Büchern stehen – dabei hätte es durchaus Grund gegeben, sich auf sie zu freuen.
Achtung: Bei diesem Worst-of geht es uns nicht um namenlose Spiele aus der Flut an fragwürdigen Free-to-Play-Fehlschlägen, atemberaubend amateurhafte Asset-Flips oder indiskutabel irritierende Indie-Implosionen, sondern um Spiele, die eigentlich besser hätten sein müssen – große Hoffnungen, die einen Bauchfleck hingelegt haben. Finger weg von diesen Games-Gurken des Jahres 2020!
Warcraft 3: Reforged
Eine der erfolgreichsten Spielefirmen der Welt, eine heißgeliebte Franchise, die Neuauflage eines Klassikers, der nach wie vor Kultstatus genießt – was kann da schon schiefgehen? Was als rhetorische Frage gemeint war, bekam Anfang des Jahres eine ernüchternde Antwort: ziemlich viel eigentlich. Vollmundig schon Ende 2018 angekündigt, sorgte die Neuauflage des Klassikers Warcraft 3 Ende Jänner für Entsetzen: User klagten über die Performance, das User-Interface, den Mangel an versprochenen Features und den Umstand, dass gezeigte Zwischensequenzen nun doch nicht im Spiel gelandet seien. Besonders peinlich: Die Demo, die auf der Blizzcon 2018 gezeigt wurde, soll besser gewesen sein als das schlussendlich veröffentlichte Produkt.
Kurzzeitig war das Remake des Echtzeitstrategieklassikers sogar das Game mit der schlechtesten User-Wertung aller Zeiten auf Metacritic. Anfang Februar hielt das Spiel bei 0,5 von zehn möglichen Punkten. Seitdem hat sich der Titel nach insgesamt knapp 31.000 User-Rezensionen tapfer auf 0,6 Punkte hinaufgekämpft. Trotzdem: Recht hoch wird’s Blizzard wohl nimmer gewinnen.
Crucible
Wenn eines der größten Tech-Unternehmen mit den tiefsten Taschen in das lukrative Segment der Free-to-Play-Multiplayer-Shooter einsteigt, darf man Großartiges erwarten. Unter Umständen wartet man dann aber lange, denn Crucible, das Debütspiel von Amazon Game Studios, hat einen wirklich epischen Fehlstart in Zeitlupe hingelegt – so etwas muss man auch erst mal schaffen. Im Mai startete der Handelsriese in eine sehr wackelige erste Runde voller Bugs und Ärgernisse, schon im Juli musste das leider einfach nicht sehr viel Spaß machende Spiel deshalb zurück in die geschlossenen Beta, bei Steam konnte man das Spiel ab dann nicht mehr herunterladen.
Leider richteten die Versuche, noch irgendwas zu retten, schlussendlich auch nichts mehr aus: Anfang Oktober verkündete Amazon, dass das Spiel nicht mehr weiter entwickelt werde und dass die Server bereits Ende November für immer abgeschaltet werden. "Das Entwicklerteam wird sich künftig um New World und andere Projekte von Amazon Games kümmern", heißt es. Was lernt man daraus: Geld schießt nicht nur keine Tore – es entwickelt auch nicht zwangsläufig erfolgreiche Spiele. Jeff Bezos wird’s verkraften.
XIII
Wenn ein unter Auskennern hochgeschätzer Geheimtipp plötzlich und recht überraschend in einer Neuauflage wieder auftaucht, freut man sich erst einmal – vor allem wenn es sich um einen ästhetisch so gelungenen Games-Oldie wie XIII handelt. Der First-Person-Shooter aus dem Jahr 2003 verwendete als eines der ersten Spiele Cel-Shading-Grafik, um den Stil der belgischen Comic-Vorlage gebührend ins Spiel zu bringen; das sieht sogar 17 Jahre später noch ganz gut aus.
Für einen 2020 veröffentlichten Titel hängt diese Latte von 2003 aber dann doch ein bisschen tief, noch dazu, weil die angepeilten grafischen "Verbesserungen" tatsächlich eher als verblüffende Verschiacherungen gewertet werden müssen. Doch das im November veröffentlichte Remake hatte durchaus mehr zu bieten – schade, dass dieses Mehr im Original nicht vorhandene Bugs, Glitches und andere technische Probleme waren. Die staunende Fachpresse konstatierte einhellig, dass man mit dem Ausgraben und Wiederspielen des fast zwei Jahrzehnte alten Originals bei weitem besser bedient sei als mit dem Remake – auch eine Leistung.
Crysis Remastered
2020 war das Jahr der verbockten Auferstehungen, und auch der Neuauflage eines Grafikwunders von 2007 muss man attestieren, wenig besser als das Original zu machen. Im Gegenteil: Auch Crysis Remastered verblüffte Kritik und Fans gleichermaßen durch kaum vom Original unterscheidbare Grafikqualität bei gleichzeitigen Verschlimmbesserungen in vielen spielerischen Details.
Das Original-Crysis galt lange Zeit wegen seiner bis ins Absurde hochschraubbaren Grafikoptionen als inoffizieller Gaming-PC-Benchmark. Zumindest in dieser Hinsicht kann auch das Remake erstaunlicherweise noch herhalten, denn dank nach wie vor mangelhafter Multithread-Optimierung geraten auch 2020 ansonsten mächtige aktuelle PC-Gamesboliden wegen dieser Schwäche ins Stottern; von der wackeligen Performance der knapp vor ihrer Pensionierung stehenden Konsolengeneration ganz zu schweigen. Dass sich "Can it run Crysis Remastered?" als Grafik-Gretchenfrage durchsetzen wird, scheint trotzdem unwahrscheinlich. Trost zum Jahresende: Ein fehlendes Level und einige Verbesserungen wurden vor wenigen Tagen nachgepatcht.
Marvel's Avengers
Eine der größten Popkultur-Franchises der Welt, ein erfahrener Publisher, massig PR- und Marketingaufwand, riesige Erwartungen. Und dann statt eines Begeisterungsorkans ein laues, ein bissi übelriechendes Lüftchen, das möglicherweise einer der eng anliegenden Superhelden-Leggings entfleucht ist – das war Marvel’s Avengers. Nicht, dass das spektakulär inszenierte Actionspiel ein so wahnsinnig grottiges Spiel geworden wäre, doch das Auseinanderklaffen der vom Marvel-Hype befeuerten Erwartungshaltung und des mäßig spannenden Ergebnisses und noch dazu der mehr als nur verhaltene Publikumszuspruch machten Marvel’s Avengers zumindest in Sachen kommerzieller Erfolg zum Bauchfleck des Jahres.
Einer Berechnung des Branchenanalysten David Gibson zufolge beliefen sich die Produktionskosten des Spiels auf über 100 Millionen Dollar, verkauft hat sich der Möchtegern-Blockbuster dann aber "nur" drei Millionen Mal – das Resultat ist ein Minus von atemberaubenden 63 Millionen US-Dollar in der Kasse. Ein vergleichsweise miserables Verkaufsergebnis in Relation zu den Kosten war im Jahr zuvor nur Biowares Megaflop Anthem gelungen. Schon einen Monat nach Release tummelten sich nur mehr knapp über 1.500 Spieler auf den Servern. Kleiner Trost für Spielefreunde: Als Beleg dafür, dass auch riesengroße Namen kein maues Spiel retten, entfaltet Marvel’s Avengers durchaus noch Strahlkraft – als abschreckendes Beispiel für kommende Generationen.
Welche Spielegurken haben Sie 2020 besonders enttäuscht? Lassen Sie uns im Forum an Ihrem Schmerz teilhaben! (Rainer Sigl, 31.12.2020)