Macht immer noch die größten Schlagzeilen, mittlerweile auch im hauseigenen TV-Programm.

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Und noch eine Tschick: "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt.

Foto: Christoph Michaelis, Amazon Prime

Manche Szenen aus "Bild. Macht. Deutschland?" wirken wie aus einem schlechten Drehbuch zu einem Film über Boulevardjournalismus. "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt sagt Sätze wie: "Für Reporter heißt Homeoffice draußen arbeiten." Oder: "Ich weiß, die Merkel isst jeden Abend etwas Leckeres mit Herrn Drosten. Und Herr Drosten sagt: 'Wir werden alle sterben.'" Oder: "Der Boulevard ist immer noch tschingderassabum. Wir gehen mit der Marching-Band durch die Fußgängerzone." Das sagt "Bild"-Chefreporter Peter Tiede, doch es könnte genauso gut von Reichelt stammen.

Sie sind ein Team, Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff, hier wird sie gemacht. Eigentlich wollte die Produktionsfirma Constantin Entertainment im Auftrag von Amazon einen Dokumentarfilm über Deutschlands mächtigste Boulevardzeitung drehen, doch dann kam Corona dazwischen. Eine Ausnahmesituation, wie es sie in der bald 70-jährigen Geschichte von "Bild" noch nie gegeben hat. Ein Jahr lang bekam das Team die Chance, die Redaktion um Chefredakteur Julian Reichelt und dessen Vize Paul Ronzheimer zu begleiten. Sieben Folgen sind auf Amazon Prime Video abrufbar. Wer Klischees über Journalismus sucht – hier wird man fündig.

Beispiel 1: Die Redaktionskonferenz

Der Chefredakteur ist sauer – im März, am Höhepunkt der ersten Welle der Corona-Pandemie, fehlen die Eigengeschichten. "Wo sind unsere Reporter?", fragt Reichelt in die Runde, die Gummibärchen vor sich hat er längst geschmaust, jetzt scharrt er mit den Socken am Teppichboden. Die Schuhe hat er ausgezogen und putzt die versammelte, zum Teil auch zugeschaltete Belegschaft zusammen. Die schaut zunächst betroffen, im Einzelgespräch werden ihm später alle recht geben. Immer und immer wieder kommt es zu solchen Situationen: Reichelt macht Dampf, die Lokomotive "Bild" setzt sich in Bewegung. Am Rande mehrmals im Bild: der Österreicher Hans Mahr, der seit Frühjahr "Bild TV" berät und die Szenen fast belustigt zu beobachten scheint.

Beispiel 2: Politik und "Bild"

"Bild" bevorzugt Menschen, aber keine Partei. Anschauliches Beispiel in der Doku: die Präferenz des Chefredakteurs für den bayerischen Ministerpräsidenten, den "Söder-Markus", wie Reichelt ihn nennt. Markus Söder wird von Reichelt als "wahnsinnig kluger und analytisch sehr scharfer Gesprächspartner" geschätzt. Den österreichischen Bundeskanzler nennt Reichelt den "Kurz-Sebastian, so einen brauchen wir auch". Mit Parteivorlieben hat das nichts zu tun. Hier geht's um: Menschen!

Folge drei räumt eben jenem "Kurz-Sebastian, so einen brauchen wir auch" Raum ein. Ronzheimer, Autor der autorisierten Kurz-Biografie, trifft den Kanzler in Wien zum "Bild TV"-Interview. "Der Journalist versucht das Maximum rauszuholen", sagt Ronzheimer davor und entlockt Kurz die Aussage zur Merkel-Nachfolge: "Ich traue dem Markus Söder alles zu, weil er ein sehr erfolgreicher Politiker ist und Bayern sehr gut führt." Ein Fehler, berichtet Ronzheimer im Telefonat mit Reichelt. Den der Kanzler sofort selbst entdeckt habe, denn nach der Aufnahme habe dieser gesagt: "Das wird jetzt hoffentlich nicht der Aufhänger." Ronzheimer zu Reichelt: "Aber das ist uns natürlich scheißegal." Die Schlagzeile dann bei bild.de: "Ich traue Markus Söder alles zu".

Beispiel 3: Kampagnen und "Bild"

Davon gab es viele, darin sind sie geübt bei "Bild", das können sie. Also berief sich das Medienunternehmen auch während Corona auf seine Kernkompetenz: konsequente Negativberichterstattung. Wenn das Opfer wagt aufzumucken, wird mit ganzer Härte nachgesetzt. So erlebte es der Virologe Christian Drosten, der eine "Bild"-Anfrage twitterte – inklusive Handynummer des Redakteurs. "Das ist das Kriegsbeil", sagt Reichelt. Journalismus heißt eben auch zu hinterfragen. "Wirrologe" hatte Drosten zuvor einer genannt. Alle lachten. Reichelt mag solche Sprüche und ist selbst voll davon. Deshalb ist er der Chefredakteur.

Und so wirkt die Doku mitunter wie eine One-Reichelt-Show, um den sich alles zu drehen scheint. Reichelt sagt dies, Reichelt sagt das, und dann wird reagiert – nicht immer positiv, es darf auch Kritik geäußert werden. Das Sagen in der Redaktion haben offenbar ohnehin eher die männlichen Kollegen, Frauen sind weniger am Wort, bis auf die Sekretärin, die über Kaffeevorlieben ihres Chefs Auskunft gibt: "Seinen Cappuccino trinkt er nur mit frischer Vollmilch."

Wie entstanden solche Bilder? Das Produktionsteam installierte wegen der Corona-Vorsichtsmaßnahmen in einigen Räumen Kameras. Ganz wird man den Eindruck nicht los, dass auch die Reporter der Dokumentation des internationalen Warengroßhändlers eine gewisse Faszination erfasst hat. "Macht. Bild. Deutschland?" ist nicht zuletzt das Porträt eines Medienunternehmens, das sein Portfolio um Bewegtbild erweitert und um Marktanteile kämpft. Laut "Berliner Zeitung" belaufen sich die Zuschauerzahlen im Schnitt zwischen ein- und dreitausend. Die Dokuserie erweist dem Ansinnen nach Mehr zweifellos einen Dienst.

Durch die Augen von "Bild"

Und nicht nur das. In Deutschland sorgt die siebenteilige Doku für einigen Gesprächsstoff. Medien wie faz.de vermissen kritische Distanz und bemängeln sie als "unkritisch und lautsprecherisch". Das stört auch Stefan Niggemeier auf Übermedien: "Wir bekommen ungeahnte Einblicke in den Redaktionsalltag von 'Bild'. Aber wir sehen 'Bild' und die Welt auch fast ausschließlich durch die Augen von 'Bild'."

Medienbeobachter wünschen sich in den kommentarlosen Folgen eine einordnende Stimme. Genau das hätte jedoch dem Gesamtausdruck den räudigen Charme genommen. Es stimmt schon, mehr kritische Distanz hätte der Doku nicht geschadet, dennoch wird niemand behaupten, dass die bei "Bild" tätigen Menschen am Ende der Doku als große Visionäre aussteigen – sondern eher als Testosteron-dominiertes Konglomerat aus Selbstdarstellern, das ein Medium bespielt. (Doris Priesching, 22.12.2020)