Auch in der großen Weltpolitik gibt es manchmal Geschichten, die man nicht erfinden kann, so kurios sind sie. Ein solches Meisterstück des Paradoxen spielte sich am Montag in Brüssel ab. Dort verhandelt eine Delegation der britischen Regierung seit gut einer Woche rund um die Uhr über einen Freihandelsvertrag mit der Gemeinschaft. Dieser soll die EU-Regeln ablösen, welche seit dem formellen EU-Austritt Ende Jänner in einer Übergangszeit bis Jahresende weiterhin gelten. So soll Chaos an den Grenzen und im Handel – also bei der Versorgung der Bevölkerung dies- und jenseits des Ärmelkanals – abgewendet werden.

Geschlossene Grenze zu Frankreich.
Foto: AFP/WILLIAM EDWARDS

Die Abgesandten von Premierminister Boris Johnson waren von London mit dem Superschnellzug Eurostar unter dem "Channel" in die EU-Hauptstadt angereist. Seit Sonntagabend haben sie ein Problem. Sie können nicht mehr so einfach nach Hause fahren, selbst wenn sie mit den EU-27 im Kompromiss eine Brexit-Nachfolgeregelung erzielen.

Denn nach der Entdeckung eines mutierten Coronavirus in Südengland, das noch viel ansteckender ist als das bisher bekannte, haben die Regierungen der EU-Staaten reagiert: Sie sperren die Grenzen zu Großbritannien. Die Anrainerstaaten Belgien, Frankreich, die Niederlande stoppten sofort alle Flüge aus England, die Züge, den Verkehr.

Was für eine Ironie! Oder ein Wink des Schicksals an den Populisten in Downing Street 10, der den EU-Partnern stets mit Abbruch der Beziehungen droht? Im echten Leben ist plötzlich die Insel isoliert, als Pandemiemaßnahme. Im Küstengebiet, auf Flughäfen und Fähren in England staut es sich. Die Menschen wollen nach Europa. Die Briten brauchen die EU und den Kontinent mehr, als Johnson lieb ist. Deutlicher kann man kaum zeigen, wie sehr geordnete Beziehungen doch besser sind als eine No-Deal-Welt, ein brüsker Abbruch des befreundeten Umgangs miteinander. Corona macht’s möglich. (Thomas Mayer, 21.12.2020)