Ende Oktober hat das polnische Verfassungsgericht die Möglichkeit einer Abtreibung schwer missgebildeter Föten für verfassungswidrig erklärt und damit eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in Europa weiter verschärft. Da rund 98 Prozent der legalen Abtreibungen in Polen aufgrund dieser Bestimmung unternommen werden, kommt dies praktisch einem absoluten Abtreibungsverbot gleich. Die Antwort der Zivilgesellschaft kam prompt in Form wochenlanger Proteste von Hunderttausenden in Warschau und darüber hinaus.

Der Limbo polnischer Politikerinnen und Politiker in Sachen Abtreibungsgesetze hat einen neuen Tiefpunkt erreicht, und während der allgemeine Diskurs wenig verwunderlich einen schwer empörten Ton anschlägt, darf man genau darin das größte Problem sehen.

Mächtige Kirche

Polen ist ein gespaltenes Land. Das zeichnete sich bereits bei den letzten Wahlen ab und setzt sich in den Umfragewerten zu den jüngsten Entwicklungen fort. Inhaltlich lehnen nämlich rund 70 Prozent der Bevölkerung die Entscheidung des Verfassungsgerichts ab, und auch aus rechtsstaatlicher Perspektive kann das Votum nur als illegitim bezeichnet werden.

Die Amtsführung der polnischen Regierung gilt nicht umsonst seit geraumer Zeit als autoritär. So verdient seit spätestens 2016 das polnische Verfassungsgericht diesen Namen nicht mehr, da es nach einer umstrittenen Justizreform nun ausschließlich als verlängerter Arm der regierenden PiS-Partei agiert. Dieses "Pseudogericht", wie Donald Tusk es nennt, hat es nun geschafft, eine politische Entscheidung durchzudrücken, die in den letzten Jahren mehrfach am Widerstand der Bevölkerung scheiterte.

Das zeigt, wie Kaczyńskis PiS ihren konservativ-autoritären Kurs durch die Aushöhlung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien weiter erfolgreich vorantreibt. Dabei wundert es nicht, dass die einzigen Jubelrufe aus der katholischen Kirche zu hören sind, die schon seit der antikommunistischen Solidarność-Bewegung der 1980er-Jahre einen zentralen Platz im Machtgefüge Polens einnimmt.

Der Frage nach der vergleichsweise wichtigen Rolle der katholischen Kirche im Land folgen einige Erklärungsversuche, die nähere Betrachtung verdienen. Die historische Verstrickung der antikommunistischen Opposition mit der Kirche ist ein Aspekt, der Polen von anderen sowjetischen Satellitenstaaten auf dem Weg zur Demokratie unterschieden hat. Diese Erklärung ist für kontemporäre katholische Einflüsse jedoch unzulänglich. Junge Polinnen und Polen identifizieren sich mit dem Namen Lech Wałęsa heute schon lange nicht mehr. "What is more, democracy encourages short memories", wie der Historiker Norman Davies schreibt.

Demonstrantinnen in Polen.
Foto: EPA/OLIVIER HOSLET

Ein Blick auf den langwierigen Prozess der Verfassungsbildung in Polen während der 1990er-Jahre liefert einen weiteren Erklärungsansatz für die ideologische Ausrichtung der PiS. Die endgültige Verfassung war eine Übereinkunft des aus der kommunistischen Partei hervorgegangenen "Bunds der Demokratischen Linken" (SLD) und Mazowieckis liberaler "Unia". Außen vor gelassen wurden dabei rechtspopulistische Gruppierungen und die Solidarność-Partei als de facto politische Vertretung kirchlicher Machtansprüche.

Somit verlor die katholische Kirche im Laufe der 1990er-Jahre entgegen ihrer Annahmen stark an politischem Einfluss. Durch das Auftreten der PiS sieht die Kirche ihre Interessen wieder ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gerückt. Dabei kann die Partei als Hybrid aus rechtem Nationalismus und konservativ-katholischen Werten gesehen werden. Solche und ähnliche ideologische Zwangsehen beschränken sich aber keineswegs nur auf Polen, sondern lassen sich in anderen Ländern genauso beobachten.

Unscharfe Grenzen

Das Verhältnis von Kirche und Staat ist mit Blick auf Österreich ebenso kein unbekanntes Thema, das nur in den Geschichtsunterricht oder in Polittalks gehört. Auch aktuell spielt dieses Thema wieder eine bedeutende Rolle, wenn in den Reaktionen auf den Anschlag vom 2. November in Wien von einem "Kampf gegen den politischen Islam" die Rede ist.

Klare Worte und ein starker Einsatz gegen religiös motivierte und radikale politische Aktivitäten und Einrichtungen sind in diesem Zusammenhang natürlich nur zu begrüßen. Die sind auch nicht das Problem. Jedoch schlagen solche Ambitionen viel zu oft in eine Pauschalverurteilung um, wie die Häufung rassistischer Vorfälle gegen MuslimInnen in den Wochen nach dem Anschlag gezeigt hat.

Dieses althergebrachte Allheilmittel einiger österreichischer Politikerinnen und Politiker unterscheidet sich in diesem Zusammenhang nicht von dem der polnischen Regierung. Denn zumindest in konservativen Kreisen scheut man sich nicht, eine Nähe zur katholischen Kirche und anderen christlichen Gruppierungen öffentlich zu demonstrieren.

Dabei liefert die jüngste Gebetsstunde im Parlament nur eine etwas fragwürdige Anekdote einer wesentlich engeren politischen Verstrickung. Ernster wird es, wenn man beispielsweise an den neuesten Versuch vonseiten mehrerer Ministerinnen denkt, erneut eine Debatte über das Abtreibungsrecht in Österreich anzustoßen. Dieser Vorstoß, unterstützt von der kirchennahen "Aktion Leben", hat unter anderem den Verfassungsexperten Heinz Mayer dazu veranlasst, vor einem "politischen Katholizismus" zu warnen.

Das wiedergekäute Melodram der unscharfen Grenzen zwischen Staat und Kirche erweckt in heutiger Rekontextualisierung den Eindruck einer Farce. Der Anschein trügt. Die jüngsten Entwicklungen in Polen sind nicht einfach eine Anekdote undemokratischer Staatsführung zu Zeiten der Pandemie. Verschärfte Präventivmaßnahmen gegen potenzielle Terroranschläge in Österreich sind auch keine Rechtfertigung für christliche Weihnachtsfeiern im Parlament. Es ist notwendig, diese Trennungen nicht nur dann zu beschwören, wenn es politisch opportun scheint, sondern sie als fundamentales Prinzip zu leben, und zwar gegenüber allen Religionsgemeinschaften. (Joseph Buttinger, Elisabeth Bauer, 7.1.2021)