Der Vergleich zwischen Magneticum-Simulationsberechnung (links) und eROSITA-Röntgenaufnahme des Abell 3391/95-Systems (rechts) liefert Hinweise auf die Verteilung des heißen Gases im kosmischen Netz.
Foto/Illustr.: Reiprich et al., Astronomy & Astrophysic

Unser Verständnis dafür, was im Universum vor sich geht, ruht auf wackeligen Theorien und Hypothesen. Für einiges, das wir uns nicht erklären können, nehmen wir einen potenziellen Mitspieler an – eine Kraft oder Materie, die die beobachteten Phänomene verursachen könnten. Da die Geschwindigkeit von Sternen am Rand von Galaxien den fundamentalen Keplerschen Gesetzen widerspricht, haben Astrophysiker beispielsweise die sogenannte Dunkle Materie eingeführt, deren Zusammensetzung eine der großen offenen Fragen der Kosmologie darstellt.

Andererseits haben wir eine recht fundierte und weithin anerkannte Annahme darüber, wieviel herkömmliche, sogenannte baryonische Materie sich seit dem Urknall im Universum verteilen haben dürfte – und zwar deutlich mehr als wir mit unseren momentanen Mitteln nachweisen können. Wo sich diese mehr als 30 Prozent an normaler Materie versteckt haben könnte, weiß niemand, denn im Unterschied zur Dunklen Materie fand man bisher auch keine gravitativen Spuren für ihren Verbleib. Die Suche danach dauert mittlerweile schon fast dreißig Jahre.

Filamente über den Abgründen

Die Astrophysiker haben natürlich einige Theorien dazu, und sogar Studien, die sie untermauern. Vielleicht verteilt sich zumindest ein Teil der "verlorenen" Materie in den gewaltigen Räumen zwischen den Galaxien und Galaxienhaufen. Die Forscher haben dabei ausgedehnte Filamenten aus heißem Gas im Sinn, dünne Fäden, die die kosmischen Abgründe überspannen. Obwohl man davonausgehen kann, dass solche Materiegespinste nicht genug Dichte besitzen, um mit traditionellen Methoden und Teleskopen gut beobachtet werden zu können, lieferten sogenannte Fast Radio Bursts (FRBs) in der Vergangenheit plausible Hinweise auf ihre Existenz.

Die vermutete Verteilung der "normalen", baryonischen Materie im Kosmos.
Grafik: Esa

Die Wissenschafter gehen von einer extremen Verdünnung von nur zehn Atomen pro Kubikmeter aus, welche selbst das beste Vakuumexperiment auf der Erde nicht erreichen könnte. Und doch dürfte ein internationales Team unter Federführung der Universität Bonn nun erstmals mit dem Weltraumteleskop eROSITA derartige Filamente mit einer Länge von 50 Millionen Lichtjahren beobachtet haben. Zumindest gleichen die Aufnahmen den Ergebnissen von Computer-Simulationen des Exzellenzclusters ORIGINS und der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU).

Große Teile des Himmels im Blick

Bei eROSITA handelt es sich um ein Röntgenteleskop, dessen Detektoren besonders empfindlich auf die Art Röntgenstrahlung reagieren, die vom Gas in kosmischen Filamenten emittiert wird. Mit seinem großen Sichtfeld kann es außerdem einen relativ weiträumigen Teil des Himmels mit hoher Auflösung in einer einzigen Messung abbilden. Infolgedessen können detaillierte Bilder, insbesondere von so großen Objekten wie den intergalaktischen Filamenten, in relativ kurzer Zeit aufgenommen werden.

Konkret fassten die Wissenschafter ein Himmelsobjekt namens Abell 3391/95 ins Auge. Das System umfasst drei Galaxienhaufen und ist ungefähr 700 Millionen Lichtjahre von uns entfernt. Die eROSITA-Bilder zeigen nicht nur die Galaxienhaufen und zahlreiche einzelne Galaxien, sondern auch jene Gasfilamente, die sich zwischen ihnen erstrecken. Das gesamte Filament ist 50 Millionen Lichtjahre lang und ein Teil davon scheint die beiden Hauptteile von Abell 3391/95 zu verbinden.

Eine zum A3391/95 System analoge Region aus der Magneticum-Simulation. Die Linien zeigen, wie das Material der Galaxienhaufen (rot und gold) und des dazwischenliegenden Gasfilaments (blau) in den letzten zehn Milliarden Jahren zusammengeführt wurde.
Illustr.: V. Biffi und K. Dolag (LMU)

Übereinstimmungen mit Simulationen

"Die neuen eROSITA-Bilder des beobachteten Systems ähneln bemerkenswert den Ergebnissen unserer kosmologischen Simulationen", erklärt Klaus Dolag vom LMU. In den an der Universität Sternwarte in München entwickelten Magneticum Simulationen fanden er und seine Kollegen ein sehr ähnliches Paar von Galaxienhaufen, die durch warmes Gas in einem brückenartigen Filament verbunden sind und mit vielen anderen umgebenden Objekten in eine viel größere Filamentstruktur eingebettet sind. Die Computersimulationen untermauern damit, dass solch lange Filamente, die sich über große Bereiche des Raumes erstrecken, eine erhebliche Menge an verdünntem Gas enthalten.

Die Simulationen zeigen auch, dass sich andere Gruppen und Galaxienhaufen entlang der Filamente auf derartige Knotenpunkte, wie es das A3391/95 System darstellt, zubewegen, berichten die Wissenschafter im Fachjournal "Astronomy & Astrophysics". "Das extrem verdünnte und kältere Gas im Filament scheint aus vergleichsweise unterschiedlichen Richtungen zu kommen, fast nahezu orthogonal zu dem heißeren Gas innerhalb der Galaxienhaufen", erklärt Veronica Biffi, Koautorin der Studie. "Und die Entwicklung seiner Eigenschaften scheint in den letzten zehn Milliarden Jahren ebenfalls vergleichsweise verschieden verlaufen zu sein." (tberg, red, 24 .12. 2020)