Die Weihnachtsfeiertage 2020 bringen ungewohnte Herausforderungen: Viele Menschen können nicht oder nur zum Teil persönlich mit ihren Familien und Freunden feiern. Stattdessen sind Telefonate, Videokonferenzen und Konversationen im Chat angesagt. In der Not kann man dabei durchaus kreativ werden.

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Gemeinsam feiern trotz Distanz: Familien, die über viele Länder verstreut sind, können ein Lied davon singen.
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Es leben aber auch viele Menschen in Österreich, die schon jahrelange Erfahrung damit haben, die biologische oder die Wahlfamilie virtuell zusammenzuhalten. Wenn die Liebsten über mehrere Länder oder Kontinente verteilt sind, bringt das ganz besondere Kommunikationsformen mit sich. Speziell die Situation von geflüchteten Personen ist schwierig, wie die Sozialanthropologin Monika Palmberger von der Universität Wien weiß: "Aufgrund der Pandemie können wir uns alle zumindest ein bisschen vorstellen, wie man über digitale Medien Familienbeziehungen aufrechterhält. Was sich die meisten nicht vorstellen können und wollen, ist diese sehr lange und ungewisse Zeit der Trennung. Diese dauert aktuell bei vielen nur einige Wochen oder Monate, bei Geflüchteten aber viele Jahre."

Digitale Ethnografie

Eine Zeitspanne, in der viele darüber nachdenken, wie sie die Familie wiedersehen könnten, was aber oft ein unerfüllter Wunsch bleibt: Es scheitert an Geld, Zeit und den Möglichkeiten, die Verwandten in einem Land mit passenden Bedingungen für ein Visum zusammenzubringen. Ansonsten bleiben vor allem digitale Medien. Palmberger erforscht in ihrem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt namens "REFUGEeICT – Multi-local care and the use of information and communication technologies among refugees", wie Menschen auf und nach der Flucht enge Beziehungen trotz großer geografischer Distanz pflegen – und wie Kommunikationstechnologien die familiären Verbindungen transformieren.

Die Basis dafür bildet eine digitale Ethnografie: Sie umfasst Interviews, sogenannte digitale Tagebücher sowie die Begleitung von geflüchteten Männern und Frauen im Alltag. Diese stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Palmberger bezeichnet sie als ihre "Forschungspartner*innen", weil sie durch die gemeinsame Analyse ihrer Erfahrungen auch Teil des Forschungsprozesses sind. In den digitalen Tagebüchern dokumentieren sie ihre Medienverwendung beispielsweise durch Texte, Sprachaufnahmen oder Screenshots.

Das Visuelle spielt auch in der Kommunikation – durch Emojis, Bilder und Videos – eine wichtige Rolle. So sendet eine syrische Mutter seit 2015 jeden Morgen ein ausgewähltes Blumenbild in die virtuelle Familiengruppe mit ihren Kindern, die in verschiedenen Ländern leben. An Familienfeiern kann wenigstens per Videoanruf teilgenommen werden, andernfalls erhält man Live-Updates von der Taufe der Nichte oder der Hochzeit einer Freundin in bild- oder schriftlichen Schnipseln.

Medialer Möglichkeitenmix

Die verschiedenen medialen Möglichkeiten sorgen auch für Überlegungen wie: Welches Medium entspricht meiner Beziehung zu Person xy? Und welche Form – (Video-)Anruf, Text- oder Sprachnachricht – nutze ich für welches Thema? Bei schneller gegenseitiger Beantwortung können etwa Textnachrichten in einem Messenger auch als synchrone Kommunikation betrachtet werden, sagt Palmberger: "Trotzdem gibt es feine Unterschiede. Im Chat hat man immer die Möglichkeit, sich zu distanzieren, indem man das Telefon weglegt und mit der Antwort wartet. Das ist anders als bei einem Anruf." Hinzu kommen persönliche Präferenzen, wenn zum Beispiel die Großmutter lieber Sprachnachrichten schickt, weil ihr das Schreiben zu anstrengend ist.

Klarerweise kann diese Form der Kommunikation auch frustrierend und traurig sein. Wenn die Großmutter ihre Enkel nur aus dem Videochat kennt und sie noch nie in den Arm nehmen konnte. Oder wenn man nicht zum Begräbnis naher Verwandter anreisen darf. "Mehrere haben auch erzählt, dass sie schon mehrmals Facebook deinstalliert haben, damit sie nicht ständig mit schlechten Nachrichten aus dem Herkunftsland konfrontiert werden", sagt Palmberger. "Gleichzeitig gab es ein starkes Bedürfnis, am Alltag der Freunde teilnehmen zu können. Mitzubekommen, welche Witze gerade erzählt werden oder welche Mode getragen wird."

Auch die Rollenverteilung innerhalb der Familie kann beeinflusst werden: "Eine damals 18-Jährige ist 2015 mit ihren Eltern und einem Bruder geflüchtet. Seit der Flucht hat sie die Hauptverantwortung für die Familie übernommen: Sie war damals die Einzige mit Smartphone und musste vieles organisieren, die Route recherchieren und mit anderen Familienmitgliedern in Syrien in Kontakt bleiben.

Sorge um Familienmitglieder

In Wien ist das so geblieben. Sie hat das als starken Bruch empfunden, weil in Syrien ihre Eltern alles übernommen haben – sie hat studiert, mit ihrer Freundesgruppe Spaß gehabt und nicht diese schwere Verantwortung auf ihren Schultern gespürt." Die neue Aufgabenverteilung sorge auch immer wieder für Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, der in Entscheidungsfindungen einbezogen werden möchte.

Covid-19 hat die Umstände vieler Familien weiter verschärft. Ein Lockdown kann aufgrund der allgemeinen Verunsicherung und des Gefühls des Eingeschlossenseins Kriegserinnerungen wachrufen. Die Kommunikation von Informationen ist sehr wichtig, für Nichtmuttersprachler jedoch schwieriger zu verfolgen. Einige haben ihre Arbeit verloren. Die Sorge um Familienmitglieder in Ländern mit schlechtem Gesundheitssystem ist groß. Gleichzeitig verschweigen manche eine Ansteckung, um die fernen Verwandten nicht zu beunruhigen.

Umso wichtiger scheint es, gemeinsame Erlebnisse auch digital zu schaffen. Man verabredet sich zum Mittagessen per Video, hat davor vielleicht ein Familienrezept rekonstruiert und is(s)t miteinander verbunden: an verschiedenen Orten und doch grenzübergreifend in einem gemeinsamen virtuellen Raum.

Im Forschungsprojekt stehen noch Gespräche mit älteren Geflüchteten aus, um herauszufinden, wie diese mit neuen Medien umgehen. Das muss allerdings noch warten, bis die allgemeine Gesundheitslage persönliche Treffen zulässt. (Julia Sica, 24.12.2020)