Ein warmer Herbstabend war es. Man feierte in den Straßencafés. Nun sah Mirsada vor sich Menschen sterben. Sie starben ganz anders als in den Actionfilmen, die sie und ihre Freunde so liebten. Nur die Fliehenden schrien. Die Getroffenen fielen lautlos um wie angestupste Gipsreplikate der Venus von Milo in der Gartenabteilung der Baumärkte. Interessanterweise dachte sich niemand an diesem Abend: Warum passiert dieser Schrecken gerade bei uns? So, als passierte er alle Tage. Auch Mirsada stellte sich diese Frage nicht. Sie fragte sich wie viele andere nur das eine: Wie erreiche ich so schnell wie möglich die Brücken?

Aus "Mirsada": "An 14 Stellen sollen religiöse Fundamentalisten wahllos das Feuer eröffnet und auch das Magistrat gestürmt haben."
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Die Stadt bestand aus 20 Bezirken, die Anschläge aber ereigneten sich im 21. Das klingt paradox, doch der 21. Bezirk gehörte zur Stadt und gleichzeitig auch wieder nicht. Vom Weltall aus betrachtet bildeten alle Bezirke eine zusammenhängende Siedlung. Abgesehen von der großen Müllhalde, welche ein Drittel der Fläche des 21. Bezirks bedeckte. Verwaltungstechnisch aber war dieser, selbst dreimal so groß wie alle anderen Bezirke zusammen, von der restlichen Stadt abgekoppelt, eine Art extraterritoriales Gelände. Auf einem der untergegangenen Planeten, ich glaube, er hieß Erde, nannte man so was einmal Bantustan.

Klassengesellschaft

Die Bewohner des 21. durften mit Erlaubnisscheinen tagsüber in der Stadt arbeiten, manche ihrer Kinder konnten dort per Bildungslotterie Unistipendien ergattern. Bis man aber den 21. mit der Stadt vereinen und seine Bewohner mit vollen Stadtbürgerrechten ausstatten würde – Pläne dazu lagen durchaus auf dem Tisch –, müssten diese zuerst einmal wirtschaftlich und zivilisatorisch zu ihrem Niveau aufschließen. Und mit der gesamten Bandbreite von Nachsicht über Mitleid bis Zorn wunderten sich die Städter, wie um alles in der Welt es möglich sei, dass dieser Bezirk es nicht wie jeder andere durch eigene Kraft und eigenen Fleiß schaffe, was alle anderen geschafft hätten: eine freie, gesunde Klassengesellschaft auszubilden, in der selbst die Ärmsten dankbar waren, nicht so arm zu sein wie die ewigen Sorgenkinder des 21. und sich zumindest Gipsreplikate der Venus von Milo leisten konnten.

Plötzlich spürte Mirsada einen Schlag. Instinktiv griff sie sich an den Nacken und betrachtete dann ihre Hand voll Blut. War es der Schock, dass sie außer einem leichten Brennen keinen Schmerz spürte? Es dürfte nur ein Streifschuss gewesen sein. Nun galt es die Beine in die Hand zu nehmen. Wie tausende andere lief sie zu einer der drei Brücken, die den 21. Bezirk mit dem ersten, dem zweiten und dem dritten verbanden. Über ihre Handys erfuhren die Flüchtenden aus den Nachrichten der Stadtsender, was in ihrem Bezirk eigentlich los war. An 14 Stellen sollen religiöse Fundamentalisten wahllos das Feuer eröffnet und auch den Magistrat gestürmt haben. Die Anteilnahme der TV-Sprecher war groß. Doch als Mirsada und die anderen die Brücken erreichten, verhieß ein Meer blinkender Blaulichter nichts Gutes.

"Mirsada spürte einen Schlag. Instinktiv griff sie sich an den Nacken und betrachtete ihre Hand voll Blut."

Die Brücken waren auf der anderen Seite durch Militär und Polizei blockiert. Über Lautsprecher forderten diese die Flüchtenden auf, absolute Ruhe zu bewahren und in ihre Wohnungen zurückzukehren. Die Einsatzkräfte seien dabei, die Terroristen zu neutralisieren. Aus rechtlichen und sicherheitstechnischen Gründen könne man im Augenblick leider keinen Massenansturm von "21ern" bewältigen. "Wir lieben euch und haben euch nicht vergessen", so beendete die Polizeisprecherin mit sympathischer Stimme die Durchsage. Aber hallo, dachte sich Mirsada, was sind denn das für neuen Töne? Dreizehnmal schon hatte sie nach Attentaten in ihrem Bezirk versucht, die Brücken zu überqueren, aber die Zurückweisung war stets rüder ausgefallen. Das gab zumindest Hoffnung.

Kein Woandershin

Sofort war noch am selben Abend im Stadtparlament eine Sondersitzung einberufen worden, in welcher die Opposition die Regierung aufforderte, die Blockade sofort zu beenden und ohne bürokratische Umschweife zumindest 30 der Hilfesuchenden reinzulassen. Die Vertreter der Regierung hielten dagegen, dass solch ein dummer und zynischer Vorschlag nur von einer Opposition kommen könne. Wie und nach welchen Auswahlkriterien solle man bloß eine begrenzte Zahl aufnehmen, wo doch Zehntausende in dieser schicksalhaften Stunde bedroht seien? Gemäß dieser Logik ließen sie es gut sein – und niemanden rein.

Mirsada kannte die Stadt gut, sie arbeitete dort in einer Waffenfabrik und kaufte sich mit einem Teil ihres Lohns jede Woche Teilnahmescheine für die Uni-Lotterie. Die Waffenproduktion war eine der Quellen der vorbildlichen Prosperität der Stadt. Waffen und Munition verkaufte sie an die Sicherheitsdienste und Terroristen des 21. Bezirks. Aber nicht nur Waffen, auch die landwirtschaftlichen Überschüsse aus ihren hübschen Urban-Gardening-Trögen. Zum Schnäppchenpreis. Zudem steckte die Stadtregierung sehr viele Hilfsgelder in die schwächelnde Privatwirtschaft des extraterritorialen Sorgenbezirks, aber irgendwie wollte die nicht recht anlaufen. Ein Problem, dass Ökonomen, Soziologen und Religionswissenschaftlern schon seit Jahrzehnten Kopfzerbrechen bereitete.

Wieso aber wollten die Menschen des 21. ausgerechnet in die Reststadt und nicht woandershin flüchten? Die Antwort ist einfach: weil es kein Woandershin gab. Auch wenn in den Medien behauptet wurde, die Stadt befände sich auf einer Kugel, auf deren anderer Seite es genug Land und Ressourcen gäbe – jeder, der bislang dorthin aufbrach, war vom Stadtrand gefallen, denn die Stadt füllte eine Scheibe aus, die durchs Weltall eierte.

In mythischer Vorzeit

Worüber aber spannten sich die drei Brücken? Über einen reißenden Fluss, der den 21. von den restlichen Bezirken trennte. Woher aber, wenn sich die Stadt auf einer Scheibe befand, kam dieser Fluss? Das ist doch unlogisch. Stimmt, aber nur, weil ich in der Aufregung der Attentate zu erwähnen vergaß, dass es am Rand der Scheibe auch einen Berg gab, das einzige Naherholungsgebiet, wo alle Bewohner der Stadt und des 21. Bezirks auch außerhalb der Arbeit – einander aus dem Weg gingen. Dort entsprang der Fluss.

Früher einmal, in mythischer Vorzeit, als alle Städter noch gleich zurückgeblieben waren, soll der Fluss ein Kanal mit sanfter Strömung gewesen sein, auf dem Seerosen blühten, Schwäne schwammen und Schilfrohrboote fuhren. Die Stadtverwaltung aber hatte das Gefälle künstlich verstärkt, damit die 21er nicht illegal übersetzen konnten. An der Unterseite der Scheibe radelten tausende Gastarbeiter des 21. Bezirks an auch ästhetisch sehr reizvollen steam- punkigen Hebelsystemen an der permanenten Senkung des Flussbetts. Nicht nur ein Meisterwerk des ungemein hohen technologischen Niveaus dieser Ausnahmestadt, sondern auch eine großzügige Arbeitsplatzbeschaffung für den strukturschwachen 21. Bezirk. Aber ob starkes oder schwaches Gefälle – wohin floss dieser Fluss, wenn die Stadt eine Scheibe war? Ins Nichts?

"Wie aber ging es mit den anderen Bewohnern des 21. Bezirks weiter? Wenn sie noch nicht gestorben sind, dann sterben sie halt täglich weiter."

Ja, so verhielt es sich über lange Zeit, ehe die Stadtverwaltung aus Gründen der Nachhaltigkeit (ein temporär ausgetrocknetes Flussbett hätte den Grenzübertritt zu einem Kinderspiel gemacht) komplexe Pumpensysteme entwickelte, um das Flusswasser, das bis dahin im All zerstäubte, an der Unterseite der Scheibe zurückzuleiten und in den Oberlauf einzuspeisen. Dafür wurden ein paar weitere hundert Arbeitslose des Problembezirks zu Ingenieuren ausgebildet und in Lohn und Brot gesetzt.

Einwohner der Reststadt

Nicht alle Stadtbewohner waren für die Isolierung des 21., vor allem in dieser schrecklichen Notsituation. Doch argumentierten die Befürworter die Abgrenzung auch mit kulturellen Gründen. Die Attentäter hingen nämlich derselben dummen Religion an wie die meisten Bewohner des Bezirks, während die meisten Einwohner der Reststadt ihre dumme Religion bereits überwunden hatten, wenngleich nicht die damit einhergehende Dummheit.

Aber irgendwie wurde der Terrorismus dort jenseits des Flusses als Teil der vorherrschenden Kultur angesehen, und wer vor diesem Schrecken flüchtete, dem – die erschrockenen und folglich schrecklichen Mienen der Flüchtenden trogen nicht – haftete selber etwas von diesem Schrecken an; der würde die höchst zivilen und fortschrittlichen Menschen der Zielbezirke bestimmt auch mit seinen Fluchtursachen anstecken. Und selbstredend würden unzählige nicht unmittelbar Angeschossene die Chance nützen – wer konnte es ihnen verdenken? –, sich in der Stadt Sicherheit, Jobs und Bürgerrechte zu erschleichen.

Übermenschliche Kräfte

Mirsada blickte in den reißenden Fluss hinunter und noch einmal zurück. Da erschrak sie, denn hinter ihr stand ein bewaffneter Mann mit Sturmgewehr; sie atmete auf, als sie in ihm einen Soldaten der Terrorabwehr erkannte. Der grinste aber und legte sein Gewehr auf sie an. Der Steckschuss in die Wade tat, im Vergleich zum Streifschuss, verdammt weh. Sie sprang und schwamm mit kräftigen Zügen in einem Winkel von etwa 45 Grad gegen die übermächtige Strömung und dachte sich, was sich viele zuvor gedacht hatten, aber nie klarer durch ihr Hirn geflutet war als jetzt – während ihres Überlebenskampfes dachte sie also, dass Armut und Zurückgebliebenheit in ihrem Bezirk und Fortschritt und Reichtum in der restlichen Stadt keine völlig unzusammenhängenden Phänomen sein könnten, und ihre Wut darüber verlieh ihr übermenschliche Kräfte, und noch mehr über diesen Zusammenhang wurde ihr klar, als sie den lehmigen Hang hochkroch und immer wieder abrutschte, aber dreckverschmiert und außer Atem dann doch die Kante erklomm und von den Soldaten entgegen den an sie ergangenen Befehlen hochgezogen und von protestierenden Aktivisten bejubelt und beklatscht wurde, denn kaum jemand zuvor war beim Versuch, den Fluss zu queren, nicht ertrunken.

Der Zukunft vorgreifen

Ihre Unterstützer würden die nächsten Monate in einer beherzten Medienkampagne für das Bleiberecht der tapferen Mirsada kämpfen. Und einen Gratisplatz an der Uni würde ihr der Bürgermeister in einer Talkshow zusichern. Soziologie würde sie studieren und ihre Erzählung vom wahren Grund der Verhältnisse im 21., die man auf der Uni Narrativ nannte, um sich von den plebejischen 21ern abzuheben, peu à peu vergessen, und in 15 oder 20 Jahren als Professorin wie ihr künftiger Professor selbst mitleidig lächelnd die Pfeife aus dem Mund nehmen und vor jungen Studentinnen aus dem 21., die es wie sie über den Fluss schafften, dozieren, dass deren Narrativ zwar emotional aufwühlend und moralisch allererste Sahne sei, aber dann doch recht abgestanden, zu simpel, tendenziös und monokausal.

Aber greifen wir der Zukunft nicht zu sehr vor, denn als Mirsada dreck- und blutverschmiert über den Uferboulevard wankte, stellte sich ihr eine alteingesessene Bewohnerin des dritten Bezirks in den Weg und empfing sie – höhnisch grinsend, aber sicher nicht böswillig – mit den Worten: "Schleich di, du Oaschloch!"

Wie aber ging es mit den anderen Bewohnern des 21. Bezirks weiter? Wenn sie noch nicht gestorben sind, dann sterben sie halt täglich weiter. (Richard Schuberth, 24.12.2020)