Wir wachen auf. Ohne Zeit. Ein Nachbar zieht vor der Wohnungstür den linken Schuh an und den rechten Schuh aus. Er steht vor dem Guckloch mit einem Foto auf der Stirn. Eine Scheidung, zwei Hebammen als Trauzeuginnen, die einen Sohn entbinden, der zur Kommunion einen Pullunder trägt, an dem wir stricken und stricken und stricken, ohne dass er fertig wird.

Möchtest du dich schnäuzen, Schatz?

Das hilft nicht gegen Durchfall, Liebes.

Wir wachen auf. Zur Unzeit.

Mit einem Lied auf den Lippen. Im Wanderschritt. Schwierig für Stehengebliebene. Wir strecken uns nach der Decke. Fingerabdrücke neben dem Kronleuchter. Pfiffe in der Umlüftung. Das Lied flackert, die Töne an einer Kette ohne Edelstein. Wir tragen sie um den Hals, am Armgelenk, um den Oberschenkel. Und dort, wo die Hüfte sich hinsetzt.

Siehst du mich noch, Liebes?

Unscharf, Schatz, dafür nur dich.

Wir wachen auf. Zeitlos.

Eine Brise Nordost um die Nase. Ein Luftzug gleitet hinein durch die Verandatür, holpert durch den Gang ins Schlafzimmer, entweicht durch den Spalt im gekippten Fenster. Wir spielen Reise nach Jerusalem, mit einem roten und einem schwarzen Pantoffel. Wir können uns nicht einigen, wer den Stuhl entfernen soll. Wir sitzen aufeinander, so rum oder andersrum. Wir blicken auf die Fingernägel und wundern uns krumm.

Hast du eine Feile, Schatz?

Nur eine Schere, Liebes, die steckt im Braten.

Wir wachen auf. Zeit ohne Zeit.

Ein Feuerwehrmann hüpft auf dem Trampolin im Garten, ein Mädchen kriecht herum, in den eigenen vier Hecken. Der Mann springt aufs Dach hinauf, wo er laut hantiert, wir ziehen uns die Maske über den Kopf und halten uns gegenseitig die Ohren zu. Durch die Schlitze erkennen wir schrumpfende Bäume, die sich in die Wurzeln zurückziehen. Die Perücke der Nachbarin besteht aus Bast. Ihr Kamm aus kleinen Rädern.

Bist du mir wirklich nicht gram, Liebes?

Ich träume, Schatz, von Hopfen und Malz.

Wir wachen auf. Ohnzeitig.

Jedes Bild an der Wand gradlinig schief, abgehangen höher gehängt, die schwarz-weiße Materie eingefärbt. Die Türgriffe zucken im Schüttelfrost. Die Treppe ist verschwunden, der Fahrstuhl führt nach oben, wo nichts ist. Wer sich aus dem Fenster lehnt, fällt in die Wolken. Wir lutschen an unserem Ringfinger und zeigen uns die Zunge. Belegter Widerspruch.

Wie weit bist du vom Sterben entfernt, Schatz?

651 Meilen, Liebes, und ich bin noch am Zählen.

Wir wachen auf. Jenseits der Zeit.

Wir sammeln Altwortmüll. "Schnell" und "langsam" sind verschwunden. Ebenso "morgen" und "übermorgen" und "überübermorgen" und "überüberübermorgen". "Gestern" würden wir nicht finden, selbst wenn wir es suchten. Wir müssen den Wortkorb mal wieder leeren. Wenn wir nur wüssten, wo? Alle für die Entsorgung vorgesehenen Stollen sind voll. Wir stolpern über stillgelegte Absichten, wir treten den Trotz platt, es geht nirgendwo zum Grund hinauf. Wir lösen Kreuzworträtsel mit klimperndem Kleingeld.

Machst du mir einen Eiskaffee, Liebes?

Kann ich, Schatz. Aber das Eis wird nicht schmelzen, nicht einmal in deinem Mund.

Wir wachen nicht auf. Wachsein ist ein genaueres Wort für Zeit. Die es nicht mehr gibt, nicht einmal als Sekundenschlaf. Wir halten uns an "ach!" und "wach!" und "wachs!", an Silben, eine jede quantitiert. Eine Hand wäscht die andere, in einer Badewanne, die nur Platz hat für eine. Es tropft durch uns hindurch, und niemand, der die Tropfen auffängt. Wozu auch?

Wellensittich oder Meerschweinchen, Schatz?

Papagei! Oder Karnickel, Liebes. Hauptsache keine Ratte.

Wir schlafen nicht ein.

Wir

(Ilija Trojanow, 25.12.2020)