Männer in der Lebensmitte: Wenn man sich nicht mehr so fit wie in jungen Jahren fühlt, stürzt das einige in eine Lebenskrise.

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"Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an!", sang der Schlagerstar Udo Jürgens. "Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss." Aber nicht alle Senioren können die Botschaft dieses Liedes unterschreiben. Gerade Männer, die in die Jahre kommen, sind häufig deprimiert – und Ärzte nehmen sich ihrer an. "Sie stehen in der zweiten Lebenshälfte und fühlen sich schlecht?", heißt es auf der Website einer Arztpraxis. "Merken, wie Ihre Kraft stark nachgelassen hat, leiden unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit und Erektionsproblemen? Sie sind gereizt, Ihr Bart wächst nicht mehr richtig? Sie legen an Gewicht zu, aber die Muskeln schwinden? Dann leiden Sie möglicherweise unter starkem Testosteronmangel."

Die "Wechseljahre des Mannes" – in Anlehnung an diejenigen der Frau – sind ein Modethema: Ärzte, Pharmafirmen und Journalisten haben es populär gemacht. Genau wie die Hormonbehandlungen, die dagegen helfen sollen: Testosteron steigere die Lebensfreude, wird suggeriert, sorge für mehr Lust und stärke die Potenz. In Deutschland verschreiben Ärzte bereits mehr als dreimal so viel synthetisch hergestelltes Testosteron wie noch 2004, und auch in Österreich und der Schweiz steigen die Umsätze mit solchen Präparaten.

Im Griff von Hormonen

Marco Caimi, der 2014 in Basel die "erste Praxis für Männermedizin" der Schweiz gegründet hat, hält Testosteron-Ersatztherapien (TRT) in vielen Fällen für sinnvoll. "Früher dachte man beim Stichwort 'Wechseljahre' ausschließlich an Frauen", sagt der Arzt und Psychiater: Stellen die Eierstöcke die Produktion der Östrogene ein, spüren viele Frauen in der Lebensmitte den Rückgang dieser Sexualhormone bekanntlich als Wechseljahrsbeschwerden und lassen sich dagegen Östrogene verschreiben. Oft bringen die Hormone Linderung, sagt Caimi. Warum also sollten Männer, deren Hormonspiegel im Lauf des Lebens ja auch sinkt, in ihren Wechseljahren nicht ebenfalls von einer Hormontherapie profitieren?

Geschlechtshormone wie Östrogene oder Testosteron haben nachweislich viele wichtige Funktionen: Sie beeinflussen nicht nur die Sexualität und Fruchtbarkeit. Testosteron ist auch am Muskelwachstum beteiligt, stärkt die inneren Organe und die Knochen, wirkt positiv auf die Psyche und steigert die Vitalität.

Ein Testosteronmangel dagegen habe sehr oft negative Auswirkungen auf die Cholesterinwerte und den Zuckerstoffwechsel (Diabetes), was zu einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen führe. "Sinkt der Testosteronspiegel, kann das auch die Beziehung erheblich belasten", sagt Caimi. "Und heute machen sich viele Männer zum Glück mehr Gedanken über ihre Gesundheit als noch ihre Väter oder Großväter."

In der Lebensmitte

Die Wechseljahre des Mannes werden auch Andropause genannt, abgeleitet von den griechischen Wörtern"andro" (Mann) und "pausis" (Ende). Sie setzen meist Anfang oder Mitte 50 ein, sagt Caimi. "Also etwas später als die Wechseljahre der Frau." Häufige Begleiterscheinungen dieser Lebensphase seien bei Frauen und Männern aber ähnlich: emotionale Verstimmungen etwa, Antriebsschwäche, Schweißausbrüche, weniger Lust auf Sex (Libidoverlust) und allgemeiner Leistungsabfall. Gerade Letzteres werde in der heutigen Arbeitswelt kaum toleriert. "Viele Betroffene 'kompensieren' die nachlassende Leistung daher durch noch mehr zeitlichen Aufwand, was Müdigkeit und Lustlosigkeit weiter verstärkt", sagt Caimi. "Ein Teufelskreis." Doch soll man diesen wirklich mit synthetisch hergestelltem Testosteron zu durchbrechen versuchen?

Shahrokh Shariat, Leiter der Universitätsklinik für Urologie am AKH Wien, rät zu einer differenzierten Betrachtung. Die Bezeichnung "Andropause" hält er für unpassend. "Dieser Begriff suggeriert, dass es ein männliches Gegenstück zu den weiblichen Wechseljahren gäbe", sagt Shariat. "Und das stimmt so nicht." Denn erstens komme es bei Männern nicht wie bei Frauen zu einem schlagartigen, sondern zu einem kontinuierlichen Abfall der Hormonproduktion. "Und zweitens beeinflussen die hormonellen Veränderungen nicht die Fruchtbarkeit, wie das bei Frauen in der Menopause bekanntlich der Fall ist."

Testosteron zuführen

Früher nutzen vor allem Sportler und Bodybuilder synthetisch hergestelltes Testosteron, und zwar als eine Art Doping, um ihren Körper in Form zu bringen. Hinzu kamen Patienten mit einer seltenen Unterfunktion der Hoden. Inzwischen aber scheinen manche Mediziner Patienten zu suggerieren, dass jeder Mann irgendwann zum Kandidaten für eine solche Behandlung werde. Shariat dagegen hält eine Testosteron-Ersatztherapie nur in ausgewählten Fällen für sinnvoll. "Männer mit geringem Sexualtrieb, niedriger Energie, Stimmungsschwankungen und erektiler Dysfunktion haben zwar in der Tat oft einen niedrigen Testosteronspiegel", sagt Shariat. "Diese Symptome können aber auch auf andere Ursachen zurückzuführen sein." Man müsse sehr genau abklären, ob solche Medikamente wirklich angezeigt seien.

Produziert ein Mann nicht ausreichend Testosteron, spricht Shariat von Hypogonadismus oder "Low T" (niedriger Testosteronspiegel). Oft liege das aber gar nicht am Alter, betont er. Männer mit Gesundheitsproblemen wie Diabetes, depressiver Verstimmung, Nieren- oder Herz-Kreislauf-Erkrankung oder starkem Übergewicht tendieren ebenfalls zu niedrigen Testosteronwerten. "Bei einem Verdacht auf Low T ist es daher wichtig, möglich rasch einen Arzt aufzusuchen, um abzuklären, ob eine andere Erkrankung dahintersteckt", sagt Shariat. Wichtig seien die Analyse der medizinischen Vorgeschichte, eine ärztliche Untersuchung und ein Blutbild, um die Testosteronwerte genau zu bestimmen.

Therapie gegen "Low T"

Eine Testosteron-Ersatztherapie kann auf viele verschiedene Arten erfolgen, erklärt Shariat: durch Hautgels etwa, Spritzen, Pellets, die unter der Haut eingesetzt werden, oder auch durch Spezialpflaster. Und: Bei einer TRT handelt es sich um eine lebenslange Behandlung. Setzt man die Präparate ab, sinken auch die Testosteronwerte wieder. "Manche von Low T betroffene Männer entscheiden sich denn auch gegen eine solche Therapie", sagt Shariat. "Sie finden entweder andere Mittel und Wege, ihr Energielevel zu steigern, oder finden sich mit den körperlichen Veränderungen und ihrem geringeren sexuellen Verlangen ab."

Lasse man sich auf eine TRT ein, seien regelmäßige Bluttests wichtig, sagt der Experte. "Und unterziehen Sie sich keiner TRT aus nichtmedizinischen Gründen wie etwa im Rahmen von Bodybuilding-Programmen, Versuchen, den Alterungsprozess aufzuhalten, oder zur Erhöhung der Leistungssteigerung." Patienten mit unbehandelten Herzproblemen, Prostatakrebs oder Schlafapnoe rät er generell von einer TRT ab, da Testosteron diese Erkrankungen verschlimmern kann (siehe Infobox unten). Und noch etwas ist ihm ein Anliegen: "Männern mit einem Testosteronwert im normalen Bereich wird durch eine TRT nicht geholfen."

Speck weg

Gibt es Alternativen, wenn männliche Senioren über Symptome klagen, die auf eine Andropause hinzudeuten scheinen? Der erfahrene Arzt und Psychotherapeut Thomas Walser aus Zürich empfiehlt in solche Fällen, erst einmal zwei, drei Monate lang den Alltagsstress zu reduzieren. Die Männer sollen sich Zeit für Dinge nehmen, die ihnen Freude machen, und im Zweifelsfall ein paar Kilo abspecken. "Oft bringt das bereits eine deutliche Verbesserung des Wohlbefindens", sagt Walser. Und auch der Hormonspiegel normalisiere sich häufig. Im Übrigen sei auch in höherem Alter ein wirklich gravierender Testosteronmangel eine Seltenheit: "Nur bei etwa drei bis fünf Prozent der 60- bis 79-Jährigen ist der Pegel so niedrig, dass er ein stark vermindertes sexuelle Verlangen und andere Symptome erklären könnte", so Walser.

Auch andere Experten halten die "zunehmende Fokussierung auf das Testosteron" in der Männermedizin für keine gute Entwicklung. Und sie haben gute Argumente: In einer großen Studie, die 2016 in der Fachzeitschrift "Endocrine Review" publiziert wurde, war das sexuelle Begehren (Libido) bei den Probanden, die Testosteron nahmen, durchschnittlich zwar etwas stärker als bei der Gruppe ohne Testosteronbehandlung. Weder in Bezug auf die Körperkraft noch auf die Gesundheit oder die Zufriedenheit zeigte sich jedoch ein positiver Effekt durch die Hormonpräparate.

Gefährliche Nebenwirkungen

Auch Shahrokh Shariat verweist auf eine durchwachsene Bilanz: "Auch wenn viele Männer eine positive Wirkung durch eine TRT erfahren, wie Veränderungen bei Energie und Libido, liegt doch noch einiges im Ungewissen", sagt er. "Auch daher ist es sehr wichtig, eine solche Therapie ausschließlich unter der Kontrolle eines erfahrenen, auf Testosteronbehandlungen spezialisierten Arztes durchführen zu lassen." Manche Männer kaufen testosteronsteigernde Nahrungsergänzungsmittel hingegen im Fitnesscenter oder im Internet. "Das kann sehr gefährlich sein", warnt Shariat. "Man kann sich nie sicher sein, welche Inhaltsstoffe in solchen Produkten verwendet werden, da sie keinerlei offiziellen Kontrollen unterliegen."

Karl-Heinz Steinmetz, Gesundheitswissenschafter und Leiter des Instituts für Traditionelle Europäische Medizin (TEM) in Wien, rät generell zu Alternativen. "Eine Substitution des Testosterons ist in Sachen Andropause nur äußerst selten der Schlüssel zum Erfolg", sagt er. Die Andropause sei ein "ganz normaler Abschnitt" des natürlichen Alterungsprozesses. Aus der Sicht der TEM sei sie daher ein wichtiges "Lehrstück der Lebensschule", so Steinmetz: Sie lade Männer dazu ein, über Leistung, Sex und den Sinn des Lebens neu nachzudenken.

Gutes Leben

Unter anderem plädiert Steinmetz für Bewegung und eine "gesunde Genussküche". Viele Männer haben während der Andropause Probleme mit der Verdauung und dem Magen-Darm-Trakt, sagt er. Und was man esse, sei so wichtig, weil es einen unmittelbaren Einfluss auf die Hormonwerte habe. "Die Andropause kann eine wunderbare Gelegenheit sein, sich mit Bitterkräutern, Heilerde und generell mit seiner Ernährung auseinanderzusetzen." Zudem gebe es "eine Palette von spannenden Heilpflanzen", die Wirkung auf den Androgen-Gesamthaushalt gezeigt hätten, sagt Steinmetz. "Auch bei bedenklichen Hormonständen würde die TEM zum Beispiel eher an eine Behandlung mit Brennnesselwurzelpulver und Kieferpollen denken, bevor sie die Testosteronspritze zückt."

Es soll allerdings auch männliche Senioren geben, die mit "spannenden Heilpflanzen" eher wenig am Hut haben. Denen kann vielleicht die Orientierung an Udo Jürgens helfen, der ja auch im höheren Alter noch sehr beschwingt wirkte. In seinen Lieder empfahl auch der Schlagerstar bekanntlich nicht etwa Testosteronpräparate als Wundermittel für mehr Lebenslust, sondern Fernreisen ("Ich war noch niemals in New York"), griechischen Wein und Süßspeisen. "Aber bitte mit Sahne!" (Till Hein, 6.1.2021)