Normalerweise stehen die Kinder an diesem Wochenende Schlange, um die Frau mit den langen und glänzenden blonden Haaren zu sehen. Nervös tippeln sie dann mit ihren kleinen Füßen auf den Boden, stellen sich immer wieder auf die Zehenspitzen, um vielleicht schon einen Blick auf die goldenen Flügel zu erhaschen. Wenn es dann soweit ist, überreichen sie ihren handgeschriebenen, wahrscheinlich in stundenlanger Vorbereitung durchdachten Wunschzettel der Dame im silbernen Kleid. Dieses Jahr ist vieles anders. Auch der rote Samtstuhl mit goldenen Verzierungen des Christkinds ist an diesem dritten Adventwochenende leer. Die Wunschzettel sind trotzdem da.

Normalerweise stehen die Kinder an diesem Wochenende Schlange, um die Frau mit den langen und glänzenden blonden Haaren zu sehen.
Foto: Deutsche Post

Engelskirchen ist der Name meiner Heimatgemeinde, Engelskirchen ist der Ort der offiziellen Christkindpostfiliale der Deutschen Post. Briefe und Wunschzettel aus aller Welt treffen hier ab dem späten November und den ganzen Dezember über ein. Über 150.000 Stück werden es dieses Jahr sein, vermutet man bei der Post. Hier in Engelskirchen öffnen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer jeden einzelnen Brief, lesen ihn und schicken eine Antwort zurück – vorausgesetzt, es ist ein Absender darauf zu finden, das Christkind ist allmächtig, irgendwo hört der Spaß aber auch auf.

In den Hallen von Friedrich Engels

Dafür wird jedes Jahr im Rathausgebäude zu Engelskirchen das Christkindbüro geöffnet. In den vergangenen Jahren war es im Alten Baumwolllager angesiedelt, nun ist es in den zweiten Stock des Industriemuseums gewandert. Baumwolllager, Industriemuseum? Der wohl berühmteste Einwohner Engelskirchens war Friedrich Engels, der 1837 genau dieses Gebäude erwarb und dort die Baumwollspinnerei Ermen & Engels aufbaute. Ein riesiger Betrieb, der die Umgebung im 19. Jahrhundert florieren ließ, zusammen mit dem Buntmetallerz-Bergbau. Der Name Friedrich Engels könnte Ihnen etwas sagen. Sein gleichnamiger Sohn verfasste 1848 zusammen mit Karl Marx das Kommunistische Manifest.

Trotz Corona sind die Helferinnen und Helfer fleißig – mit Maske, versteht sich.
Foto: Pollerhof

In diesen immer noch gut erhaltenen Hallen wird nun keine Baumwolle mehr gesponnen, sondern es werden Unmengen an Briefen geöffnet. Und ja, das Büro ist so eingerichtet, wie man es sich in seinen kühnsten Fantasien am Nordpol nicht ausmalen könnte. Ein (digitales) Lagerfeuer prasselt in einem alten Steinkamin, der mit Tannenzweigen, einer Lichterkette, roten Ornamenten und Holzsternen geschmückt ist. Daneben steht ein großer brauner Sack mit der offiziellen Anschrift: "Christkind-Postfiliale, 51777 Engelskirchen". Die Postleitzahl von Engelskirchen lautet 51766. Das Christkind hat seine eigene.

Das Büro ist festlich geschmückt – und voller Post.
Foto: Pollerhof

"Hach, der Thorben", höre ich von einer Dame aus meinem Heimatort, als ich eintrete. Engelskirchen ist nicht sehr groß, man kennt sich. Bei meiner Verabschiedung wird sie mich bitten, Grüße an meine Eltern auszurichten. Auch die Schreibtische der fleißigen Helferinnen und Helfer sind verziert, überall stehen kleine Tannenbäume, an den Wänden hängen selbstgebastelte Bilder und Collagen, die Kinder ihren Wunschzetteln beigelegt haben. Neben dem Kamin steht ein Tisch mit Süßigkeiten darauf. "Da kommt alles hin, was an Naschkram mitgeschickt wird", sagt Britta Töllner.

Töllner, eine hochgewachsene Frau mit langen blonden Haaren, die ebenfalls gut das Christkind verkörpern könnte, begleitet das Projekt für die Post schon seit 2003. Sie spricht leidenschaftlich über die Christkindfiliale, die Helferinnen nennt sie "ihre alten Damen", sie weiß, wo alles steht und liegt. Mein guter Freund Thomas, dessen Familie schon immer im Büro mitgeholfen hat, sagt mir, er hätte schon mit Töllners Kindern dort zusammengearbeitet. Thomas Bruder Niko klebt Briefmarken auf die verfassten Antworten, während ich mit Töllner rede.

Einen Brief an das Christkind zu schicken ist nicht schwer. Meist reicht es als Adresse, ihn "An das Christkind" zu versenden, die deutschen Postfilialen wissen mittlerweile Bescheid. Wer aus dem Ausland schreibt, sollte zumindest noch die Postleitzahl und "Germany" dazuschreiben, sonst könnte ein taiwanesischer Postbeamter sehr verdutzt auf ein für ihn wertloses Stück Papier schauen.

Wer mag, kann seinen Wunschzettel auch direkt am Christkindbüro in den Kasten werfen.
Foto: Pollerhof

Post aus Taiwan

Und das kommt vor. Aus über 50 verschiedenen Ländern kommt die Post nach Engelskirchen. Solche haben im Büro eine Extrawand. Hier hängen Briefe aus Malaysia, Brasilien, Japan, Kanada, auch ein Brief aus Feldkirch in Vorarlberg ist dabei, und eben das Beispiel aus Taiwan.

"Dear Santa", beginnt der Brief von Coco. "In vielen Kulturen und Sprachen gibt es das Christkind nicht, deswegen schreiben auch viele eben an den Nikolaus oder auch an Mr. Santa", sagt Töllner. Coco wünscht sich nichts. Sie möchte lediglich eine Antwort haben, denn "Chrismus is my favorite holiday". Der Brief ist mit selbstgemalten Lebkuchenfiguren verziert, und Coco hat einen Neuen Taiwan-Dollar aufgeklebt. Jede Einsendung wird beantwortet. Es gibt eine vorgefertigte Antwort, die personalisiert und mit Details aus dem Wunschzettel aufgepeppt wird. Sogar Briefe mit Brailleschrift kommen an, auch die werden mithilfe eines Übersetzungsbüros beantwortet.

Die internationale Wand.
Foto: Pollerhof

Jedes Stück Papier, das durch die Hände der Helferinnen und Helfer geht, ist einzigartig. Manche schicken sauber durchdachte Wunschzettel, auf denen Lego-Kräne samt richtiger Seriennummer stehen, manche wollen das Christkind einfach nur grüßen, manche schildern ihren Alltag. Ein Kind wünscht sich gleich zwei Pferde, zur Sicherheit, "falls eins wegen Brexit stecken bleibt". "Ich habe dich auch in den Nachrichten gesehen", schreibt eine Emi irgendwo aus Deutschland. Ein Charly wünscht sich, dass es keine Umweltverschmutzung mehr gibt. Dafür sollen "die Heiligen (z. B. St. Martin)" wieder auf der Erde leben. "Ich wünsche mir viele Freunde und dass Corona bald weg ist", steht in einem anderen handgeschriebenen Brief mit goldglitzerndem Stift. "Aber ich glaube, das kannst du nicht erfüllen" darunter, eine handverzierte Einwegmaske ist an das Papier getackert.

Einige Kinder schicken dem Christkind eine eigens verzierte Maske mit.
Foto: Pollerhof

An das Christkind bei den Engeln

Corona ist auch hier in aller Munde. "Es ist faszinierend, wie sehr die Kinder das schon mitbekommen", sagt Töllner. "Gibt es dort oben auch Corona?" ist eine Frage, die häufig in den Briefen auftaucht.

"Dort oben", also in Engelskirchen, das rund 30 Kilometer östlich von Köln im Oberbergischen Land liegt, gibt es natürlich Corona. Vor kurzem ist der Inzidenzwert auf über 200 geklettert, Rückkehrer wie ich müssen in eine häusliche Quarantäne nach ihrer Einreise, Weihnachten und Silvester darf maximal mit fünf Personen aus zwei Haushalten gefeiert werden. Auch das Christkindbüro hat Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Die Helferinnen und Helfer arbeiten in Schichten und wahlweise im Homeoffice, mein Besuch solle bitte "so kurz wie möglich sein". Verständlich, es sind vor allem ältere Frauen, die hier sitzen und den Kindern eine Freude bereiten.

Warum gerade Engelskirchen? Im Jahr 1985 kommen erstmals Briefe in den Ort, die "An das Christkind bei den Engeln" adressiert sind. Die Flut an Wunschzetteln will auch in den folgenden Jahren nicht abreißen, sodass die örtlichen Postbeamten sie nicht mehr bearbeiten können. Also musste eine eigene Filiale her, das Christkindbüro war geboren. Zu Spitzenzeiten treffen mehr als 12.000 Briefe täglich hier ein.

Foto: Pollerhof

Kein Wunder, denn die Faszination ist groß. Wenn ich den Brief mit der Aufschrift "Post vom Christkind" in den Händen halte, geht mir immer noch das Herz auf. Mein bereits erwähnter Freund Thomas denkt immer wieder aufs Neue an uns, an die alte Clique aus Schulzeiten, und verschickt an jede bekannte Adresse so eine Botschaft. "Vom Himmel aus habe ich durch mein Fernrohr gesehen und euch dabei beobachtet, wir ihr gemeinsam mit der Familie das Haus schmückt, Plätzchen backt und zusammen Weihnachtslieder singt. Wie gerne wäre ich dabei!", steht darin.

Liest man diese Zeilen, könnte man meinen, es sei dieses Jahr ein Weihnachtsfest wie jedes andere. Und obwohl dem nicht so ist, versuchen die Helferinnen und Helfer im Christkindbüro Kindern auf der ganzen Welt dabei zu helfen, es so normal und zauberhaft wie möglich zu machen.

Konstante oder Überraschung

Viele Familien werden heuer ein zerrissenes Fest feiern, ganz zu schweigen von den Menschen, die den "engsten Familienkreis" anders definiert haben und auf ihre Freunde verzichten müssen. Kinder, für die dieses Fest mit einer magischen und undurchdringbaren Aura der Freude umschlossen ist, dürften wohl besonders von den Veränderungen betroffen sein. Oma und Opa nicht da, die Geschenke fallen nicht so üppig aus wie sonst, das Feuerwerk zum Jahreswechsel ist weniger. Die Post vom Christkind wird für viele Kinder in Deutschland und der ganzen Welt eine wohltuende Konstante oder eine wunderbare Überraschung sein.

Während ich das Christkindbüro verlasse und die Tür des Industriemuseums aufdrücke, stapelt ein Postbote davor kistenweise neue Wunschzettel, manche in Briefen, manche in Paketen, auf einen Hubwagen. "Die kommen alle auf die zweite Etage?", fragt er. "Ja", antworte ich. Wie verrückt diese Zeit auch ist, was die auch Zukunft noch bringen mag – die Wunschzettel werden nach Engelskirchen kommen. Und hoffentlich auch bald wieder die Kinder, die mit glänzenden Augen darauf warten, dem Christkind persönlich ihre sehnlichsten Wünsche überreichen zu können. (Thorben Pollerhof, 24.12.2020)