Das Haus meiner Großmutter war alt, eng und ärmlich. Es hatte kein Badezimmer, nicht einmal ein WC, nur ein Plumpsklo draußen neben einem kleinen Stall. Der Boden im Durchgang zum oberen Stock bestand aus festgestampftem Lehm. Keine Bilder oder Fotografien hingen an den Wänden, keine Ziergegenstände schmückten die einfachen Möbel. Und doch gab es in diesem Haus für einen bemessenen Zeitraum einen schönen Gegenstand. Zumindest war er das für meinen Geschmack, den Geschmack eines Kindes.

Funktioniert in Kinderseelen fast immer: der Weihnachtsbaum.
Foto: Imago

Es war ein kleiner Weihnachtsbaum, den meine Großmutter jedes Jahr zu Beginn der Adventszeit auf der Fensterbank ihres Wohnzimmers aufstellte, ein Bäumchen mit künstlichen Nadeln an biegsamen Zweigen aus grün ummanteltem Draht, um die sich eine Lichterkette schlängelte. Wenn man sie an eine Steckdose anschloss, dann leuchteten die winzigen Kerzen rot, blau, grün und gelb.

Der Baum fesselte immer wieder aufs Neue meine Aufmerksamkeit, vielleicht weil er in seiner leuchtenden Buntheit einen Kontrast zur Kargheit des Hauses bildete. Vielleicht aber auch, weil die kindliche Ästhetik immer eine Schwäche für alles Miniaturhafte hat. Ich kannte bis dahin nur den Weihnachtsbaum in meinem Elternhaus, der war groß und hatte echte Tannennadeln, die irgendwann abzufallen begannen.

Jedes Mal, wenn ich meine Großmutter in der Vorweihnachtszeit besuchte, bat ich sie, die Lichterkette des Baums an die Steckdose anzuschließen. Und dann sagte ich ihr, wie schön der Baum jetzt aussehe. Ich weiß nicht mehr, ob ich mit meinem Lob insgeheim eine Absicht verband. Jedenfalls schenkte meine Großmutter mir irgendwann das Bäumchen. Als mein Vater es am Abend auf der Fensterbank meines Zimmers leuchten sah, sagte er etwas, das ich nie mehr vergessen würde: "Na, hast du es endlich abgestaubt?"

In den ersten Tagen hatte ich Freude mit dem Bäumchen, schaltete bei einsetzender Dunkelheit die Beleuchtung ein und betrachtete es von allen Seiten. Dann aber wuchs allmählich ein Unbehagen in mir, ein vager Skrupel, der die Freude an meinem neuen Besitz zu trüben begann. Womöglich lag es daran, dass mir die Fensterbank meiner Großmutter bei meinem nächsten Besuch plötzlich betrüblich leer erschien.

Lauern auf die bequeme Gelegenheit

Vielleicht hatte aber auch die Bemerkung meines Vaters etwas dazu beigetragen, diese seltsame skeptische Mischung aus Anerkennung und Unterstellung von Schlitzohrigkeit, die in seiner Bemerkung lag. "Na, hast du es endlich abgestaubt?" Wieso endlich? Hatte ich es denn wirklich so eindeutig darauf angelegt, das Bäumchen in meinen Besitz zu bringen? Und dann das seltsame Wort "abstauben". Was bedeutete das? Ich kannte das Wort nur aus einem völlig anderen Zusammenhang. Wenn meine Mutter großen Hausputz veranstaltete, machte sie sich am Ende immer daran, sämtliche Möbel abzustauben. Was hatte diese reinigende Tätigkeit mit dem Geschenk meiner Großmutter zu tun?

Das nächste Mal begegnete mir das Wort, als ich gemeinsam mit meinem Vater ein Fußballspiel im Fernsehen anschaute und er ein Tor der gegnerischen Mannschaft mit den Worten kommentierte: "Typisches Abstaubertor!" Ich fragte ihn, was das bedeute. Und er erklärte mir, dass ein solches Tor nicht aus einem gekonnten Spielzug, einer genialen Flanke oder einem gewonnenen Dribbling entsteht. Ein Abstauber sei ein Spieler, der darauf wartet, dass ihm der Ball zufällig vor die Füße fällt. Er braucht dann nur noch den Fuß hinhalten, um ihn einzunetzen. Jedes Kind könne so ein Tor schießen.

Dieser verächtliche Befund hielt meinen Vater indes nicht davon ab, in hemmungslosen Jubel auszubrechen, sobald einem Spieler der eigenen Mannschaft ein solcher Abstauber gelang. Ja, mir schien, als läge so etwas wie Schadenfreude in seinem Jubel über einen Treffer, der für die gegnerische Mannschaft ein besonderes Ärgernis sein musste. Aber was hat diese Form des sportlichen Lauerns auf die bequeme Gelegenheit mit der Staubentfernung beim Möbelputzen zu tun? Was bedeutet die eigentümliche Doppeldeutigkeit des Wortes? Gibt es da einen Zusammenhang? Die einschlägigen Wörterbücher führen immer zwei Erklärungen getrennt nebeneinander an. Es gibt eine Bedeutung des Reinigens und eine der Aneignung, wobei Letztere meist mit moralischen Konnotationen gespickt ist.

Schwestern abstauben

Eine Reihe verwandter Wörter tummeln sich in diesem leicht zwielichtigen Wortfeld, wie absahnen, abluchsen, ergattern, einsacken, einstreifen oder sich etwas unter den Nagel reißen. Aber kein Wort ist von einer derart schillernden moralischen Ambivalenz getränkt wie das Abstauben. Der Zusammenhang der beiden Bedeutungsebenen des Reinigens und des Aneignens kam unlängst wunderbar in einer Diskussionssendung des bayerischen Fernsehens zum Ausdruck. Es war ein Gespräch zwischen Kardinal Christoph Schönborn und der ehemaligen Ordensschwester Doris Wagner. Die Frau hatte für mediales Aufsehen gesorgt, als sie ihre Vergewaltigung durch einen Priester während ihrer Ordenszeit öffentlich gemacht hatte.

In dem erstaunlichen Gespräch gestand der Kardinal ihr etwas zu, für das die Nonne jahrelang ebenso verzweifelt wie vergeblich gekämpft hatte: Ein hoher Kirchenfunktionär bekennt vor laufender Kamera, dass er ihr die behauptete Vergewaltigung glaube. Und der Kardinal ging noch einen Schritt weiter und erzählte, wie seine jungen Priesterkollegen, wenn sie unter sich waren, über Nonnen redeten. Wenn sie etwa planten, den Ordensfrauen die Beichte abzunehmen, dann hieß es: "Gehen wir Schwestern abstauben."

Dass die Priester für die Abnahme der Beichte, also für den Eintritt in die Sphäre des Geheimen, Intimen und Sündigen, das Wort "abstauben" verwendeten, evoziert die gesamte semantische Tiefe und Breite des Begriffs. Der säubernde Aspekt der Wortbedeutung wird dadurch evoziert, dass die Nonnen durch den pastoralen Akt der Sakramentstiftung von ihrem Sündenschmutz befreit werden.

Zugleich schafft die Situation der Beichte eine machtgestützte Situation der intimen Ausgeliefertheit, eine günstige Gelegenheit, die man sich einfach nicht entgehen lassen darf. Nicht oft haben Abstauber so leichtes Spiel. Allzu kostbar ist abgestaubte Ware freilich nicht. Und so kommt bei der Bemessung des erotischen Werts etwas zutiefst Abschätziges zum Ausdruck, als seien die Nonnen verstaubte Ladenhüter, die aus dem hintersten Regal hervorgezerrt und erst einmal vom Staub befreit werden müssen. Doch ist der geschenkte Gaul erst einmal abgestaubt ... Selten ist die sexuell getränkte Frauenverachtung katholischer Prägung zynischer auf den Punkt gebracht worden.

Moralische Gratwanderung

Seinen etymologischen Ursprung hat das Abstauben möglicherweise darin, dass der Müller einst beim Mahlen des Korns einen Teil des produzierten Mehlstaubs für sich zurückbehalten hat. Und es mag schon damals eine moralische Gratwanderung im Graubereich gewesen sein, ob das abgestaubte Mahlgut dem Kunden abgeluchst wurde oder bloß ein Abfallprodukt beim Produktionsprozess war.

Das Interessante an dem Wort ist, dass es im Laufe seiner Verwendungsgeschichte mehr und mehr seine anrüchige Bedeutung eingebüßt hat. Sprachhistorische Studien zeigen, dass das Wort seit Mitte der Siebzigerjahre einen starken Anstieg in der Verwendungshäufigkeit erfährt. Einher damit geht ein deutliches Abschleifen des moralischen Kontexts. Inzwischen ist das einstreifende Abstauben nicht einmal mehr ein Kavaliersdelikt mit Augenzwinkern, für den umtriebigen Konsumenten ist es längst zu einem festen Bestandteil des Alltags geworden.

Die Werbung greift das Wort nur allzu gern auf und lädt zur großen Sause, Warenhäuser locken permanent mit Abstauberangeboten. Ein skurriles Beispiel aus einem Gratisblatt: "Sie möchten das eine oder andere exklusive Geschenk für Ihre Liebsten abstauben?" Was für ein Angebot! Für die Liebsten nur das Beste aus der Wühlkiste. Dass die sprach historische Wende im Wortgebrauch Mitte der Siebzigerjahre einsetzt, ist kein Zufall. Es ist die Zeit, als die Aufbaugeneration der Nachkriegszeit ihr Erbe an ihre Kinder weiterzugeben beginnt.

Die Erschaffer des Wirtschaftswunders, die Generation meines Vaters, kannten noch die moralischen Konnotationen des Abstaubens, weil sie den Mangel der Kriegszeit und die begrenzten Ressourcen des Wiederaufbaus erlebt hatten. Etwas abzustauben war in diesen Jahren ein Mittel, um sich über Wasser zu halten.

Verlorener Glanz

Die Erben jedoch, die in das Wirtschaftswunder hineingeboren wurden und nie etwas anderes kannten als den Überfluss, nahmen die schier grenzenlose Verfügbarkeit der wachsenden Konsumwelt als etwas Selbstverständliches hin. Die Abstauberzone hat sich längst in einen Geschicklichkeitsparcours für Schnäppchenjäger verwandelt. Anrüchig ist hier nichts mehr. Wer nichts abstaubt, ist selber schuld. Der Verlust der moralischen Implikationen des Wortes ist die große Lücke in einer Gesellschaft, die partout nicht mehr wissen will, was sie mit ihrer Abstaubermentalität anrichtet.

Der Wertverlust, den die gegenständliche Welt damit erfährt, lässt sich gut an meinem Weihnachtsbäumchen veranschaulichen. Solange es auf der Fensterbank meiner Großmutter stand, hatte es einen Wert, der über seinen bescheidenen Materialwert hinausging. Es ragte heraus und brachte buntes Licht in das ärmlich-graue Einerlei des Hauses. Sobald es leuchtete, zeigte es meiner Großmutter und mir an, dass nun eine besondere Zeit im Jahr angebrochen war.

Von dem Moment an jedoch, als es auf meiner Fensterbank stand, in einem Haus, versehen mit sämtlichen Errungenschaften der frühen fetten Jahre, verlor es augenblicklich jeden Glanz. Wie mickrig wirkte es plötzlich gegen die prächtige Nordmanntanne im Wohnzimmer mit ihren echten Kerzen, all dem Lametta und den vielen glänzenden Kugeln.

Es dauerte nur wenige Tage, bis ich die Lichterkette des Bäumchens nicht mehr einschaltete. Irgendwann staubte meine Mutter es nicht einmal mehr ab, und es verschwand im Keller. Der Platz auf der Fensterbank meiner Großmutter blieb bis zu ihrem Lebens ende leer. (Dietmar Krug, 25.12.2020)