Die präkolumbische Besiedelung der Karibik begann vor Jahrtausenden und erfolgte in zwei Wellen.
Illustration: Merald Clark für SIBA

Zur Zeit, als die ersten Europäer in der Karibik eintrafen, scheinen die Inseln viel dünner besiedelt gewesen zu sein, als man immer gedacht hatte: Das ist das wohl überraschendste Ergebnis einer neuen Studie zur Urgeschichte dieser Region. Nicht Hunderttausende oder gar Millionen seien es gewesen, sondern lediglich zwischen 10.000 und 50.000 Menschen hätten in der Region von Haiti, Dominikanischer Republik und Puerto Rico gelebt, schätzt das Team um Daniel Fernandes und Ron Pinhasi.

Die beiden Wissenschafter vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien haben in Zusammenarbeit mit David Reich von der Harvard Medical School eine umfassende DNA-Studie durchgeführt. Darin flossen insgesamt 174 neu analysierte sowie 89 schon früher aufgeschlüsselte Genome von Menschen ein, deren Überreste auf der Insel Hispaniola, den Bahamas, auf Puerto Rico und Curacao sowie in Venezuela gefunden worden waren. Die Proben stammen aus dem Zeitraum von vor etwa 3.000 bis vor 400 Jahren.

Die Ersten

Aber wer waren diese indigenen Völker, die unter dem Begriff "Kariben" zusammengefasst wurden? Dass die Besiedlungsgeschichte der Inseln vor etwa 6.000 Jahren begann, war bereits klar. Und auch dass es mehr als nur eine Besiedelungswelle gegeben haben dürfte, galt als weitgehend gesichert. Wann und woher die verschiedenen Siedler kamen, darüber gingen die Ansichten aber auseinander. Die aktuelle Studie, veröffentlicht in "Nature", bringt Licht in die Angelegenheit.

In der frühesten Besiedlungsphase, der sogenannten Archaik, nutzten die ersten Bewohner der karibischen Inseln Steinwerkzeuge. Das Erbgut dieser Menschen passt den Daten zufolge am ehesten mit jenem von Bewohnern aus Zentralamerika und dem nördlichen Südamerika zusammen. Einen genetischen Einfluss aus Nordamerika fand man entgegen vielfacher Annahmen jedoch nicht.

Die Zweiten

Vor mindestens 1.700 Jahren erfuhr die Region dann eine tiefgreifende Veränderung: Den neuen Analysen zufolge dürften Menschen aus dem Nordosten Südamerikas über die Inselgruppe der Kleinen Antillen in weite Teile der Karibik vorgedrungen sein und die Keramiktechnik mitgebracht haben. Die neuen Siedler hatten ein anderes genetisches Profil, das am ehesten dem von Arawak-sprechenden Völkern im Nordosten Südamerikas entsprach. Es scheint, als hätte diese Gruppe die ursprüngliche Bevölkerung nahezu überall ersetzt. Die letzten Bevölkerungsgruppen aus der Archaik scheinen sich aber im Westen Kubas bis zur Ankunft der Europäer gehalten zu haben.

Der nun anhand der Gendaten nachgezeichnete Weg der neuen Besiedler deckt sich den Forschern zufolge auch mit archäologischen und sprachwissenschaftlichen Befunden. Bis die ersten Schiffe aus Spanien anlandeten, blieb diese Bevölkerungsgruppe offenbar weitestgehend unter sich, hielt aber enge Kontakte über die Inseln hinweg. Für Fernandes unterstützen die neuen Erkenntnisse "die Theorie, dass die Völker des Keramikzeitalters gut miteinander vernetzt waren, was als Katalysator für die Verbreitung neuer Keramikstile in der gesamten Region wirken hätte können".

Die Dritten

Ein noch stärkerer Umbruch erfolgte dann mit dem Kolonialismus, durch den zum zweiten Mal die ursprüngliche Bevölkerung praktisch vollständig verdrängt wurde. Ab Ende des 15. Jahrhunderts besiedelten Europäer und als Sklaven verschleppte Afrikaner die Region und bildeten die Grundlage der bis heute vorliegenden Bevölkerungsstruktur. Trotz der Verwerfungen der vergangenen 500 Jahre findet sich laut der Studie im Erbgut der heutigen Karibik-Bewohner aber immer noch zwischen 4 und 14 Prozent genetische Information, die auf die indigene Bevölkerung zurückgeht. (red, APA, 23. 12. 2020)