An allem, was Sie hier sehen, hängt unser Herz." Jamaine Spindler steht in Hausschuhen im Matsch auf einem Feld vor den Toren Wiens. Der Blick der 25-Jährigen streift über eine Handvoll Wohnwagen, Lkw-Anhänger und ein kleines Zelt, aus dem es nach Kamel riecht. Der Zirkus Candy wirkt im Moment ein wenig verpackt und verloren, aber das liegt am Lockdown, nicht an den Spindlers. Die Familie würde am liebsten morgen wieder ihr großes Zelt aufbauen, raus in die Manege, so wie sie es seit mehreren Generationen tut. "Das ist ein Leben, das man schwer aufgeben kann", sagt Spindler.

Zirkusdirektor Marcellino (re.) und Clown Santino sind mit acht Kamelen, Ponys, zwei Ziegen und Hunden vor Wien gestrandet.
Foto: Reiner Riedler

Der Zirkus Candy ist im zweiten Lockdown auf einem Feld in Breitenfurt gestrandet, kurz hinter der Wiener Stadtgrenze. Viele andere kleinere und größere Zirkusse überall im Land teilen dieses Schicksal: Der Zirkus Belly in Lanzenkirchen, der Zirkus Simoneit-Aron in Nußdorf-Weitwörth, der Zirkus Kaiser in Ried – sie alle sitzen auf irgendwelchen Feldern fest, ihrer Einnahmequellen beraubt, mit mehr oder weniger verständnisvollen Feld-Eigentümern. Das Dasein der Zirkusleute gilt als eines voller Freiheit und Unabhängigkeit.

Grundsätzlich sind das positiv besetze Begriffe, im Corona-Jahr 2020 erschien aber auch die Sicherheit plötzlich wieder ein bisschen attraktiver.

Das Leben, ein Zirkus

"Das Zirkusleben ist normalerweise ein sehr schönes", sagt Spindler, während sie durch den Gatsch in Richtung des Zelts watet, das als Stall fungiert. Es ist ein Freitagnachmittag im niederösterreichischen Dezember, kalt und feucht. Und in anderen Jahren stehen die Wohnwagen, Lkws und Kamele auch nicht wochenlang auf diesen Wiesen, sondern nur ein paar Tage. Eine normale Woche im Leben der Familie Spindler schaut so aus: Montag Fahrtag, Dienstag und Mittwoch Aufbau, von Donnerstag bis Sonntag Vorstellungen (insgesamt fünf), Sonntagabend Abbau. Und dann alles wieder von vorn.

Der Zirkus Candy ist ein kleiner Zirkus, acht Personen leben in ihm, mit ihm und von ihm. Neben Jamaine, ihrem Mann und ihrer acht Monate alten Tochter sind das ihre Eltern und drei Geschwister. Die Spindlers kommen ursprünglich aus Deutschland, leben aber seit 20 Jahren in Österreich. Sie sind Teil einer größeren Zirkussippe – der Zirkus Safari, der im ersten Lockdown direkt beim Auhof strandete, gehört genauso einem Spindler wie der Zirkus Vegas, der aktuell in Altenmarkt festsitzt. Ursprünglich gestartet hat das Ganze der Opa.

"Ich bin im Zirkus groß geworden und kenne nichts anderes, mein Vater ist im Zirkus groß geworden, meine Tochter wird im Zirkus groß werden", sagt Spindler und schiebt ein "wahrscheinlich" nach. In dem Familienbetrieb hat jeder eine Aufgabe: Jamaine ist verantwortlich für Licht und Musik, ihre Mutter für den Süßigkeitenstand, der Bruder ist der Clown. Um die Tiere kümmert sich vor allem der Vater, aber gerade da packen alle mit an.

Abwarten und jonglieren: Derzeit sind Zirkusse auf Spenden angewiesen.
Foto: Reiner Riedler

Stillstand

Insgesamt 20 Tiere stehen in dem Zelt in geräumigen Gitterboxen: jeweils acht große Kamele und kleine Ponys, zwei Pferde und zwei Ziegen. Zusätzlich läuft ein struppiger schwarzer Hund namens Strolch kläffend herum. Die meisten Tiere hier sind in den Zirkus hineingeboren worden, genauso wie ihre Halter. Ein altes, schwarzes Pferd lässt das Geschehen ruhig an sich vorüberziehen. Neben ihm rammt ein Ziegenbock namens Kevin seine Hörner gegen das Gitter, wenn er der Meinung ist, nicht ausreichend Aufmerksamkeit zu bekommen, und lässt sich auch nicht von einem "Pfui!" beeindrucken.

Zirkusaufführungen sind rechtlich gesehen Veranstaltungen, und als solche sind sie seit Anfang November verboten. Zum Zeitpunkt des Besuchs ist noch nicht abzusehen, wann das wieder anders sein wird. Mittlerweile schaut es so aus, als sei ein Betrieb ab Mitte Jänner prinzipiell möglich, die Zukunft hängt aber von den Infektionszahlen ab. Für die Zirkusbetreiber wie für viele andere auch beginnt deshalb nach Weihnachten genau genommen nicht der dritte Lockdown, weil der zweite nie aufgehört hat.

Und das ist natürlich ein Problem. Auch ein kleiner Zirkus hat im Monat einiges an Fixkosten. Vor allem Strom und Wasser und das Tierfutter schlagen mit jeweils 700 bis 800 Euro zu Buche, dazu kommen Dinge wie Platzmiete und Versicherungen, und auch Zirkusleute leben nicht von Zuckerwatte allein. Corona-Hilfe bekommt der Zirkus nach eigenen Angaben keine: "Die österreichischen Behörden sagen uns, wir sollen uns an Deutschland wenden, die deutschen Behörden verweisen uns an Österreich."

Ein Zelt auf dem Feld

Derweil lebt man von Spenden. Prinzipiell ist der Standort dafür nicht der schlechteste: Die Straße, an der sie gestrandet sind, ist eine Verlängerung der Breitenfurter Straße, die von Meidling aus durch Liesing führt. Autos fahren in die Stadt und wieder zurück, der Wien-Wanderweg 6 quert das kleine Tal. Am Straßenrand haben die Spindlers eine Sammelbox aufgestellt. "Bitte helfen Sie uns durch diese Krise", steht auf dem Schild.

Jamaine und Marcellino Spindler (hier mit Baby Hailey) haben sich vor zwei Jahren aus dem Zirkus-Familienverbund gelöst und mit dem Circus Candy selbstständig gemacht.
Foto: Reiner Riedler

Für den Zirkus Candy ist das keine unbekannte Situation. Im Frühjahr erwischte ihn der erste Lockdown in Berndorf bei Baden, auf seiner ersten Station des Jahres. Fast sieben Monate kam man nicht vom Fleck und musste die Bevölkerung um Spenden bitten. Viele halfen, vom örtlichen Oldtimerclub bis zum Dorferneuerungsverein Kottingbrunn. Im etwas lockeren Sommer lockerte sich auch die Stimmung für die Zirkusse ein wenig: Drei Wochen lang konnten die Spindlers ein Familienprojekt, den "Kinder-Mitmach-Zirkus", umsetzen. Dann zogen sie nach Ebreichsdorf und weiter nach Breitenfurt, kurz danach wurden das Land und seine Zirkusse ein weiteres Mal heruntergefahren.

Galgenhumor

Die Familie hatte Glück: Den Besitzer des Feldes kennen sie lange, es ist schnell klar, dass sie bleiben dürfen. Die Spindlers vom Zirkus Candy haben sich erst vor zwei Jahren aus dem größeren Familienverbund gelöst, weil sie "selber etwas auf die Beine stellen wollten". Doch in der Zirkuswelt sind die Beziehungen oft seit Jahren und Jahrzehnten eingelernt. Man kennt die Bürgermeister und Bauern mit den Feldern, ist untereinander befreundet, verwandt oder zumindest in Kollegialität verbunden. Im Prinzip schaut ein Zirkusjahr ungefähr so aus: Im Frühling macht man einen Tourneeplan, reicht Ansuchen ein und legt im Vorfeld fest, wann man in welchen Städten sein möchte. "Dieses Jahr ist uns das gründlich misslungen", grinst Spindler, da hilft nur Galgenhumor.

Hätte es den zweiten Lockdown nicht gegeben, hätte der Zirkus nach Breitenfurt erst in Wien-Brigittenau Station gemacht und dann in Baden, für die lukrativen Weihnachtsvorstellungen. Dann wäre man von selbst sechs Wochen in den Lockdown gegangen, wie jedes Jahr. Die meisten Zirkusse machen ein bis zwei Monate Pause, um sich zu erholen oder die Verwandtschaft zu besuchen. Das ist, angesichts einer ungewissen Zukunft, gerade alles nicht so einfach.

Und überhaupt, durch die Pandemie kommt jetzt ein neues Problem hinzu. Viele auch prinzipiell wohlmeinende Behörden oder Feldbesitzer sind vorsichtig. Sie haben Angst, einen Zirkus aufzunehmen, den sie im Falle eines neuerlichen Lockdowns vielleicht nicht mehr loswerden.

Strom, Wasser und Tierfutter schlagen jeweils mit bis zu 800 Euro zu Buche, dazu kommen Platzmiete und Versicherungen. Mit Spendenplakaten bittet die Zirkusfamilie Spindler um Hilfe – auch Sachspenden sind willkommen.
Foto: Reiner Riedler

Der Vorhang fällt

Auf die Plakate, die überall in Liesing und bis nach Hietzing hinein hängen, hat die Familie eine Bitte um Spenden geklebt. Menschen überweisen ein bisschen Geld oder bringen Sachspenden direkt vorbei. Im Stall stehen Dosen mit Tierfutter herum, an diesem Nachmittag tauchen auch zwei Mütter aus der Umgebung mit ihren Kindern auf.

Sie haben Karotten und geviertelte Äpfel im Gepäck und fragen höflich, ob sie die Tier füttern dürfen. Sie dürfen nicht nur, es wird gern gesehen. Das alte Pferd, Ziegenbock Kevin und die acht Kamele lehnen sich so weit, wie es geht, über die Gitter und fressen das Obst vorsichtig direkt aus den offenen Kinderhänden. Hier sind alle Zirkusprofis, auch die mit Fell.

Die Situation der kleinen Zirkusse ist trist, da ist der Zirkus Candy keine Ausnahme. Wie schafft man es, angesichts dieser Lage die Hoffnung nicht aufzugeben? "Wir sind eh knapp vor der Verzweiflung, aber wir müssen ja weitermachen", sagt Spindler bei der Verabschiedung. "Wenn wir jetzt aufgeben, verlieren wir nicht nur unseren Lebensstil, sondern auch unsere Tradition." (Jonas Vogt, 26.12.2020)