Alexander Kluge, Briefsteller an Giorgio Agamben: "Ein bisschen sind wir hochmütig. Die nächste Pandemie wartet schon auf uns."

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In einem offenen Brief an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben, vor kurzem abgedruckt in der "FAZ", lancierte der deutsche Intellektuelle Alexander Kluge mit der ihm eigenen, sanften Nachdrücklichkeit ein neues Sprechen über Sars-CoV-2. Nun erläutert er sein Anliegen: Wir müssen mit dem Listenreichtum des Virus umgehen lernen.

STANDARD: Die Pandemie hat uns eine Vielzahl von Verständigungsformen aufgezwungen: das sanitäre Sprechen, den virologischen Diskurs, die Prosa staatlicher Verfügungsgewalt. Sie haben Ihr Ungenügen ausgedrückt. Was fehlt?

Kluge: Zunächst ist es etwas Fremdes, das da an unsere Tür klopft. Ein Lebewesen, vielleicht eine Art von "halbem" Leben, das einige Millionen Jahre parallel zu uns gelebt hat. Das ist zunächst wie ein Alien. Nun gibt es das öfter: Wenn Sie als Spanier mit Kolumbus nach Amerika übersetzen, 1492, und dann treffen Sie auf menschliche Lebewesen mit etwas anderen Sitten, und Sie bringen aber die Pocken mit. Die Pocken sind den Indios nicht bekannt, und jetzt sterben letztere wie die Fliegen. Jetzt lässt sich sagen: Hier sind zwei Fremdheiten einander begegnet.

STANDARD: Die Virenstämme sind hingegen unsere Begleiter?

Kluge: Ich spreche viel mit Karin Mölling, einer führenden Virologin am Max-Planck-Institut in Zürich. Die ist eine sehr gute Erzählerin, sie erinnert mich lebhaft an das Kindermädchen, das mir abends immer die Märchen erzählt hat. Sie spricht gelegentlich wie eine Anwältin ihres Forschungsgebiets. Und sie sagt: Ein Teil der Natur ragt wie ein Eisberg in uns hinein…

STANDARD: Wir haben Virenstämme in unser Erbgut aufgenommen?

Kluge: Wenn Sie das Erbgut nehmen, den Taktgeber unserer Zellen, so können Sie sagen: Zu 51 Prozent bestehen wir aus Fremdmaterial, das wir aufgesammelt haben. So wie ein Hugenotte, der im 17. Jahrhundert aus Frankreich flüchtet. Der kommt in Deutschland unter, dort wird er preußischer Kameralist und General. Diese Hugenotten wechselten den Patriotismus: Sie wurden ausgezeichnete Landesverteidiger. Auf solche Art sind vor 35 Millionen Jahren Viren in unser Genom eingedrungen. Es existiert eine Art Schranke, aber die Assimilation passierte schließlich doch. Woraufhin sich einige dieser Viren in Schutzengel verwandelt haben. Die uns verteidigen, allerdings gegen ihre Artgenossen von vor fünf Millionen Jahren oder älter.

STANDARD: Die es nicht mehr gibt?

Kluge: Aber den Verteidiger gibt es noch. Wir können mit diesem Fremdling in uns nicht sprechen. Der versteht uns nicht, sonst würde er uns vielleicht helfend beistehen. Die Immunologen sagen: Es könnte in uns längst eine allgemeine Immunität stecken! Aber wir können sie nicht wachrufen.

STANDARD: Engel lassen sich auch nicht auf Zuruf zu uns herab.

Kluge: Es gibt eben nicht nur Engel in der Vergangenheit, sondern auch solche, die aus der Zukunft kommen, oder solche, die überhaupt im Konjunktiv existieren. Das Virus hat keinen Kopf. Aber es besitzt die eigentümliche Fähigkeit, Mutationen im Zeitraffer vorzunehmen. Da spalten sich in jeder Sekunde, an jedem einzelnen Tag, aus dem allgemeinen Molekülsystem Fraktionen ab. Die werfen, wie das Pferd im Galopp, Moleküle weg – dafür nehmen sie andere auf.

STANDARD: Wie der Umbau des Schiffes auf hoher See?

Kluge: Eher wie Schiffe, die ihre Ladung wechseln. Dadurch haben sie im Grunde längst andere Eigenschaften entwickelt. Eine Handvoll Nasenschleim, versetzt mit Viren: Das wären schon einige Billionen. Die bilden Fraktionen. Diejenigen, die sich ihrer Umwelt anpassen, besitzen einen Wettbewerbsvorteil. Die Intelligenz, die bei uns scheinbar im Kopf steckt oder auf der Haut sitzt oder im Zwerchfell, die sitzt zwischen den Viren.

STANDARD: Eine Art kollektiver "Intelligenz"?

Kluge: Viren reproduzieren sich durch Probierverhalten. Sie bieten eine Außenfläche an, und wenn die Umwelt darauf reagiert, frei nach Darwin, dann besitzt diese Fraktion einen evolutionären Vorteil. Sie bildet dann die Mehrheit. Was mich besonders verblüfft hat: Ein Virus, das in eine Zelle eindringt, macht hinter sich zu. Es baut aus Eigenmaterial und dem der Zelle eine Art Mauer, damit andere nicht nachkommen.

STANDARD: Mit seinem Solidarverhalten ist es nicht weit her?

Kluge: Keine Rede, es geht ihm nur ums Überleben. Aber es ist nicht anders, als wenn Frontex die EU-Außengrenzen schließt oder im Mittelmeer sagt, es sollen Menschen lieber ertrinken, bevor sie uns belasten. Es wäre indes absurd, den Viren kantianische Moralitätsbegriffe zuzumuten. Warum sollten sie die auch haben? Die wären für ihr Überleben ausgesprochen ungünstig. Was mich an diesen Fremdlingen verwundert: Dieser Algorithmus, diese wenigen Elemente, aus denen sie – dabei immer klein bleibend – ihre Programme generieren.

STANDARD: Das Virus muss uns Respekt abnötigen? Indem es listig ist wie Odysseus?

Kluge: Respekt wäre uns dringend anzuraten. Die Gefährlichkeit des Fremden nimmt zu, wenn wir ihn nicht verstehen.

STANDARD: In Wahrheit sollten wir unseren Blickwinkel grundlegend verändern?

Kluge: Ein bisschen sind wir hochmütig. Wir sind die Intelligenzwesen auf dem Planeten, und das sichert uns ab. Da bin ich mir nicht so sicher. Ist das Virus erst einmal eingedrungen, sind nicht wir die Stärkeren. Wenn wir den Impfstoff haben, stellen wir vielleicht wieder alte Stärkeverhältnisse her. Aber die nächste Pandemie wartet schon, und die nächste Mutation des Virus auch. Man stellt das Impfmittel nicht auf der Basis des Virus her, sondern auf der elementaren Basis der primitiven Eiweiße, also der Moleküle, die das Virus selbst hat. Man setzt einen Köder für den Körper, um einen Kampfstoff zu entwickeln: indem man Moleküle auf Basis der Ähnlichkeit baut.

STANDARD: Es gibt Beispiel aus der Großstadtliteratur von vor 100 Jahren, die an Ihre Erzählung vom Virus erinnern. Man denke an Brechts "Lesebuch für Städtebewohner", das Beweglichkeit lehrt, als Technik im Überlebenskampf.

Kluge: Brecht ist ein praktischer Poet. Er ist des Wortes mächtig, aber er schreibt in Richtung der Moderne, der Selbsthilfe und Orientierung. Das empfinde ich als sehr elementar. "Die Kenntnis der Notausgänge ist das schönste Theater", hat Marcel Proust gesagt: Er beschreibt, wie er in einer langweiligen Boulevardkomödie sitzt, und er blickt auf die blauen Notlichter. Dadurch wurde der Abend in seiner Fantasie doch noch interessant. Je mehr sich die Menschen an engen Orten versammeln, in den Metropolen von Lagos bis Moskau, entsteht die Konzentration von Ansteckung. Ausgerechnet in den Städten, die voll sind mit Glückssuchern, die also die entschiedensten Orte der Zivilisation darstellen, werden wir attackiert. Wir können uns nicht bewaffnen wie unsere Vorfahren, das hat wenig Sinn. Wenn wir aber unseren Algorithmus anpassen würden, oder sogar Gegenalgorithmen bilden, die dem des Virus zuwiderlaufen, dann würde das unsere Sicherheit schlagartig erhöhen. Das Virus kritisiert unsere Lebensweise. (Ronald Pohl, 26.12.2020)