Personen gedenken den Opfern in der Wiener Innenstadt. Die Aufnahme stammt von 6. November.

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Wenige Tage nach dem islamistischen Terroranschlag am 2. November in der Wiener Innenstadt, bei dem ein Attentäter vier Menschen tötete und zahlreiche weitere verletzte, gestand Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) Bemerkenswertes ein: In der Behördenkommunikation sei offensichtlich etwas "schiefgegangen" – denn diese hätten die Gefahr trotz entsprechender Hinweise offenbar nicht erkannt, die vom späteren Attentäter ausging.

Ob und welche Verfehlungen seitens der Behörden in diesem Zusammenhang genau gemacht wurden, versucht eine von Justiz- und Innenministerium eingesetzte Untersuchungskommission zu klären. Am Mittwoch wurde ein erster Zwischenbericht an beide Ministerien übermittelt.

Langsames Agieren

In diesem wird besonders das Agieren des Verfassungsschutzes kritisiert. Der Bericht zeigt deutlich, dass die Kommunikation innerhalb des Verfassungsschutzes mangelhaft war, was die Gefährdungseinschätzung des späteren Attentäters K.F. als auch die anschließend (nicht) ergriffenen Maßnahmen betrifft. Kritisiert werden unter anderem ein zu langsames Agieren, was Risikoeinschätzungen betrifft, fehlende Informationsweitergabe und fehlende Kommunikation mit der Staatsanwaltschaft.

Wie lief die Überwachung von K.F. laut der Rekonstruktion der Kommission ab? Erste Informationen über den späteren Attentäter erhält das Heeresnachrichtenamt im Jahr 2018, diese werden an das Bundesamt für Verfassungsschutz (BVT) weitergeleitet. Ob in weiterer Folge das Landesamt für Verfassungsschutz (LVT) informiert wird, ist aber laut Bericht unbekannt. Danach, im Jahr 2019, kommt es zu dem bekannten Ausreiseversuch von K.F. Nach seiner Überstellung aus der Türkei wird er verhaftet und zu 22 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.

Kurz nach seiner bedingten Entlassung aus dem Gefängnis Ende 2019 kommt es zu einer sogenannten "Gefährderansprache" durch das Landesamt für Verfassungsschutz. In dieser habe sich KF unkooperativ und nervös gezeigt, zudem habe er wahrheitswidrig behauptet, keine Termine bei der Bewährungshilfe wahrzunehmen. Er weigerte sich zudem, gegen einen Terrorverdächtigen auszusagen. Es wurde kein Waffenverbot verhängt. Der spätere Attentäter wird vorerst als "nicht prioritär" behandelt. Zu einer "definitiven Erstbewertung" durch das LVT kommt es erst im Oktober 2020.

Schwierige Analyse

Bereits hier kommt es laut Bericht zu Situationen, in denen es zu keiner Informationsweitergabe zwischen den Dienststellen kommt. Einige Informationsflüsse habe die Kommission zudem gar nicht aufklären können, heißt es im Bericht: "Diesbezügliche Nachfragen blieben teilweise unbeantwortet, teilweise stehen die Aussagen der verschiedenen Dienststellen im Widerspruch, teilweise wurden der Kommission keine validen Dokumente dazu vorgelegt."

Bisher nicht bekannt war, dass das militärische Heeresnachrichtenamt (HNA) im Februar 2020 noch einmal explizit vor K.F. warnte, weil dieser Kontakt zu einem IS-Mitglied hatte, das sich wohl in der Türkei aufhielt.

Schweigepflicht

Im Juli kam es zu dem bereits bekannten Treffen von Islamisten in Wien, im Zuge dessen das BVT von deutschen Kollegen ersucht wurde, dieses zu observieren. Auch Beamte des LVT wurden teilweise hinzugezogen. Dennoch sei dem LVT laut Bericht nicht bekannt gewesen, dass das Treffen im Kontext mit einer hoch gefährlichen Terrorzelle stehe. Diese Tatsache habe das BVT nur einem Mitarbeiter des LVT geschildert, und dieser sei seitens des BVT "zum Schweigen verpflichtet" worden – was das BVT allerdings bestreitet.

Es kommt zu dem bekannten versuchten Munitionskauf in der Slowakei. Die Bilder, die das BVT von diesem Treffen von den slowakischen Behörden erhält, werden erst einen Monat später dem LVT vorgelegt. Anschließend wird KF. von einem LVT-Mitarbeiter darauf identifiziert. Ein LVT-Mitarbeiter regt Maßnahmen an, die aber weder vom LVT noch vom BVT ergriffen werden. Noch am 11. September kommt es zu einer Bewertung, bei der KF. ein "moderates Risiko" attestiert wird, was Anfang Oktober auf "hohes Risiko" hochgestuft wird. Aus dieser Einstufung wurden aber keinerlei Konsequenzen gezogen. Eine Gefährderansprache wurde zwar vorgesehen, aber wegen der "Operation Ramses/Luxor" im Umfeld der Muslimbruderschaft verschoben.

Keine Meldung an Staatsanwaltschaft

Keiner dieser Sachverhalte wurde an die Staatsanwaltschaft gemeldet, was die Kommission stark kritisiert: Zumindest hätte ein Verfahren zum Widerruf der bedingten Entlassung eingeleitet werden können.

Auch bei Meldungen an die Weisungsspitze im Innenministerium dürfte es hapern: Der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit werde durch das BVT nicht regelmäßig konkret über die Terrorlage informiert, gab das BVT bekannt. Es gebe zudem auch "keinen regelmäßigen Fluss von Informationen" an den Innenminister.

Beim BVT sei zudem eine "große Verunsicherung" in der Belegschaft wahrnehmbar, die auf die Durchsuchungsaktion 2018 zurückzuführen sei, heißt es im Bericht.

Der Zwischenbericht zeigt deutlich, dass wichtige Erkenntnisse zum späteren Attentäter nicht miteinander kombiniert wurden. Die Oppositionsparteien forderten bereits politische Konsequenzen im Innenministerium, das von Karl Nehammer (ÖVP) geleitet wird. Es sei eine eigene Ermittlungsgruppe eingerichtet worden, die dienstrechtliche Schritte prüft und danach entsprechende Ableitungen treffe, heißt es aus dem Innenministerium.

"Kein Nachbesserungsbedarf" bei Terrorstrafrecht

Die Hauptergebnisse des Berichts beschreibt Kommissionsleiterin Ingeborg Zerbes gegenüber dem STANDARD folgendermaßen: Die Deradikalisierungsarbeit müsse strukturell und gesetzlich besser verankert und finanziell besser ausgestattet werden. Auch die Einführung von Fallkonferenzen, in denen Polizeibeamte oder der Verfassungsschutz mitarbeiten, solle man erwägen. Solche Konferenzen sollen künftig – das ist Teil des Antiterrorpakets – im Rahmen einer bedingten Entlassung von Terrorstraftätern abgehalten werden.

Prinzipiell gebe es jedoch, den Erkenntnissen der Kommission zufolge, "keinen Nachbesserungsbedarf" beim bereits bestehenden Terrorismusstrafrecht: "Unsere Straftatbestände ermöglichen, bei dem Verdacht auf strafwürdiges gefährliches Verhalten rechtzeitig zu ermitteln", sagt Zerbes.

Die Frage, ob man "punktuell" nachbessern solle, was die Möglichkeiten präventiv-polizeilicher Überwachung betrifft, werde die Kommission im Jänner aufgreifen: "Der Fall legt aber jedenfalls nahe, die Informationsflüsse zwischen und innerhalb der Dienststellen so zu organisieren, zu strukturieren und mit modernen Datenbanken zu unterstützen, dass die bestehenden rechtlichen Grundlagen besser genützt werden können. Auch die Zuständigkeitsverteilung zwischen BVT (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, Anm.) und den (insgesamt neun) Landesämtern dürfte suboptimal sein", sagt Zerbes.

Keine Kausalität

Zusammenfassend sei das Problem, dass die verschiedenen Kriterien, nach denen sich insgesamt "durchaus eine Entwicklung des Attentäters in Richtung einer gesteigerten Radikalisierung" abgezeichnet habe, "immer nur punktuell und teilweise auch verzögert gesehen wurden, aber nicht in einer Zusammenschau zum Anlass genommen wurden, schon früher eine höhere Gefahreneinstufung vorzunehmen oder bei der zuständigen Dienststelle zu erwirken".

Zerbes hält aber auch klar fest: "Keine der festgestellten Schwächen im Informationsfluss, keine Verzögerung kann auch nur annähernd als kausal für den Anschlag gewertet werden."

"Korrektes Handeln der Justiz"

Auch der Berichtsteil, den die Justiz betrifft, wurde am Mittwoch veröffentlicht. Dort wird zum Beispiel festgehalten, dass das erste Ansuchen des Attentäters für eine bedingte Entlassung abgelehnt wurde. Das zweite Ansuchen wurde schließlich genehmigt. Das Gericht verhängte drei Jahre Probezeit, ordnete Bewährungshilfe und die Betreuung durch den Verein Derad an. Im Zusammenhang mit der Bewährungshilfe durch den Verein Neustart und der Betreuung durch Derad wird festgehalten, dass "isoliert betrachtet nichts Besonderes" auffällt. Mit Neustart kam es nach der Haft zu 23 persönlichen Terminen, mit Derad gab es 15 Treffen. In Berichten wurde der Attentäter als Anhänger einer ultrakonservativen Strömung beschrieben.

Weitere Auflagen wie Kontaktverbote mit gewissen Personen oder eine Psychotherapie, wie von der Jugendgerichtshilfe während der Zeit der Haft empfohlen, ordnete das Gericht nicht an. Dabei handle es sich um eine Entscheidung der unabhängigen Rechtssprechung auf Grundlage der Gesetze, die stets verschiedene Faktoren gegeneinander abzuwiegen hat, heißt es dazu aus dem Justizministerium. Prinzipiell sieht sich Justizministerin Alma Zadić bestätigt: "Aus derzeitiger Sicht der unabhängigen Untersuchungskommission attestiert der Zwischenbericht ein korrektes Handeln der Justiz."

Endbericht

Der Endbericht soll laut Zerbes Mitte Februar vorliegen. Die Erkenntnisse daraus sollen dann in den zweiten Teil des Antiterrorpakets und die Strafvollzugsreform einfließen, teilte Zadić in einer Aussendung mit. (Vanessa Gaigg, Fabian Schmid, 23.12.2020)