Der Knabenchor der Londoner St Paul’s Cathedral bei einer Probe für ein Weihnachtsfest ohne Livepublikum, aber im Stream.

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Oh du fröhliche! Wenn wir heuer zu Weihnachten gemeinsam die Stille Nacht singen, wird spätestens beim dritten Durchlauf der ersten Strophe eines klar: Nicht nur aus musikalischer Sicht handelt es sich beim Singen um eine brandgefährliche und heuer mehr denn je bedrohte menschliche Ausdrucksform. Sie kann unser Gehör und unser Gehirn seit jeher erheblich mit Textschwächen und Notenpatzern belasten.

Außer auf dem Fußballplatz singen wir alle ja höchstens bei Geburtstagsfeiern das textarme Happy Birthday und das zweite Mal kurz zum Christfest. Ansonsten beschränkt sich das Singen und Tanzen meist auf böse Hoppalas. Erwähnt sei etwa das Fingereinklemmen beim Zuschlagen der Autotür.

Friede den Skihütten

Insofern sind heuer auch unsere tapferen Skifahrer gesegnet. Aufgrund der Sperre der Skihütten bei offenem Liftbetrieb hat man die winterlichen Berge ganz still, weil ohne Hey-Baby!- und Uh!- und Ah!-Mitmachmusik inklusive im Obstlerchor grölender Menschenmassen zuletzt vor gefühlt 50 Jahren erlebt. Das kloster-, ziller- oder brixentalerisch quäkende Transistorradio beim Liftwart in der Talstation, ein Gruß aus uralten Zeiten!

Speziell in Tirol waren über die Jahrhunderte Singen und Tanzen immer wieder auch aus politischen wie sittlichen Gründen verboten. Andreas Hofer, Alpen-Taliban. Freiheitslieder (Frei wie ein Adler, Looking for Freedom, I Want to Break Free …) und Wollustschlager (Uh! Ah!) werden in den Bergen erst sei Après-Ski und "die Gäscht" als Geschäftsmodelle erkannt.

Wir verdanken das aktuelle öffentliche Singverbot zu Weihnachten 2020 bekanntlich nicht lästerlichen oder liederlichen Texten, etwa bezüglich Corona, Kontaktsport mit Matratze, Querdenken oder Vorbehalten gegenüber den Pressekonferenzen unserer Regierung. Heuer sind die Aerosole und ihre Verbreitung speziell in geschlossenen Räumen oder beim flotten Dreier mit süßen kleinen Elefanten schuld. Neben dem nassforschen Virenschleudern beim Bespielen einer Querflöte als gefährlichstes Instrument der Musikgeschichte handelt es sich beim Singen also um ein kreatives Spiel mit dem Feuer.

Glückshormone werden produziert

Singen kann tödlich sein. Zwar muss man heuer nicht gleich fürchten, polizeilich belangt zu werden, wenn der Blockwart vom Zinshaus ein erhöhtes Aufkommen von Es wird scho glei dumpa inklusive Kinderstimmen und dissonanter Blockflöte im dritten Stock meldet. Der Volksmund sagt dazu: "Drückt’s dich wo, dann sing dich froh!" Das war aber früher. Dieses Jahr ist beim Singen ein Umdenken gefordert.

Dabei ist das Singen nicht nur als Ausdruck der Selbstbestätigung und der Steigerung des Selbstwertgefühls dringend angeraten. Wissenschaftlich erwiesen, fördert vor allem auch das Singen im Chor nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder … Einfache Lieder mit eingängigen Texten stärken die Atmung und das Herz. Singen belebt und entspannt. Singen tröstet. Es produziert Glückshormone, unterbricht Grübeleien, verbessert den Schlaf und fördert ein friedvolles Miteinander, Toleranz und Versöhnung. Freude schöner Götterfunken! Lebensfreude ist angesagt.

Wir sind ein Volk der Sänger

Wir sind übrigens trotz allem ein Volk der Sänger. Laut dem österreichischen Chorverband sind hierzulande 3500 Chöre mit insgesamt über einhunderttausend Sängern und Sängerinnen gemeldet. Das ist die offizielle Zahl. Zwischen diversen professionellen Chören, weltlichen Kirchen-, Arbeiter-, Knappen-, Bach- und Gospelchören ist aber auch noch Platz für Wildwuchs und eine hohe Dunkelziffer. Beschwerdechor, Schwulen- und Lesbenchor, Holzfäller- oder Gebärdenchor. Gottbegnadet für das Schöne!

Wir sollten heuer trotz aller Gefahren unter dem Christbaum vielleicht doch aus vollem Herzen die Stille Nacht einbrüllen. Machen wir uns locker. Singen ist wichtig. Richtig oder falsch, fast egal. Oder wie Hans Sachs in Die Meistersinger von Nürnberg meint: "Euch macht ihr’s leicht, mir macht ihr’s schwer." (Christian Schachinger, 24.12.2020)